Ein leises Jahr
Die Schweiz hat 2025 kein lautes Jahr erlebt. Kein eruptiver Bruch, kein alles überlagerndes Ereignis, das rückblickend als Zäsur taugt. Und vielleicht ist genau das die eigentliche Nachricht. Während ringsum die Nervosität wuchs, blieb dieses Land seiner Paradedisziplin treu: dem kontrollierten Weiterwursteln mit Licht- und Schattenseiten.
Politisch zeigte sich die Schweiz stabil, aber nicht souverän im besten Sinne. Die Institutionen funktionierten, die Verfahren liefen, die Rituale wurden gepflegt. Gleichzeitig wuchs das Gefühl, dass sich die Institutionen zu oft treiben ließen. Weniger von der eigenen Bevölkerung als von äußeren Erwartungen, internationalen Moden und moralischen Imperativen, die nicht in der Schweiz entstanden sind. Neutralität blieb offiziell Staatsräson, praktisch aber zunehmend ein Balanceakt zwischen Bekenntnis und Relativierung. Man wollte niemanden verärgern und riskierte damit einen sehr viel höheren Wert, den des eigenen Profils. Das beste Beispiel hierfür: Die umgehende Übernahme der EU-Sanktionen gegen Russland, anstatt einen neutralen Boden für Verhandlungen zu schaffen.
Ein Jahr der Warnsignale
Wirtschaftlich war 2025 ein Jahr der Robustheit, aber auch der Warnsignale. Die Schweiz ist nach wie vor wohlhabend, leistungsfähig, attraktiv. Der Arbeitsmarkt blieb stabil, die Innovationskraft intakt. Gleichzeitig verdichteten sich die Hinweise, dass dieses Modell nicht automatisch ewig trägt. Regulierungsdichte, internationale Steuerdebatten, geopolitische Abhängigkeiten und ein wachsender Fachkräftemangel nagen an der Selbstverständlichkeit des Erfolgs.
Die Staatsquote, das Verhältnis zwischen dem Geld, das der Staat ausgibt, und dem Bruttoinlandsprodukt, wächst langsam, aber unaufhörlich. Sie liegt bald bei einem Drittel des Bruttoinlandsproduktes. Es ist inzwischen in erster Linie der Staat, der wächst. Das Wirtschaftswachstum wird für 2026 nur auf ein Prozent prognostiziert. Das Land lebt im Vergleich mit anderen immer noch gut – aber zunehmend von Voraussetzungen, die man nicht mehr aktiv verteidigt, sondern als gegeben hinnimmt.
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Gesellschaftlich wirkte das Land gespaltener, als es sich selbst eingestehen möchte. Nicht entlang klassischer Bruchlinien, sondern subtiler: Stadt gegen Land, Verwaltungssprache gegen Alltagssprache, moralischer Anspruch gegen gelebte Realität. Die Schweiz diskutiert viel über Haltung, aber wenig über Konsequenzen. Über Inklusion, aber ungern über Zumutbarkeit. Darüber, was man der internationalen Gemeinschaft und den Menschenrechten eben schuldig sei, aber nicht über die Folgen im eigenen Land. Über Offenheit, aber kaum über Belastungsgrenzen. Das erzeugt keine Explosion, sondern Müdigkeit. Und Müdigkeit ist gefährlicher als offener Streit.
Gleichzeitig zeigte sich 2025 auch eine andere Schweiz. Eine, die funktioniert, ohne großes Aufheben darum zu machen. Gemeinden, die pragmatisch Lösungen finden. Unternehmen, die investieren, statt zu jammern. Bürger, die Verantwortung übernehmen, ohne daraus eine Tugendperformance zu machen. Der soziale Kitt ist noch da. Er wird aber nur selten gewürdigt, weil er nicht spektakulär ist.
An Erfahrung gewonnen
Auffällig war zudem eine neue Ernsthaftigkeit in vielen Debatten. Weniger Hysterie, mehr nüchterne Fragen: Was können wir uns leisten? Was wollen wir selbst entscheiden? Wo endet Solidarität, wo beginnt Selbstaufgabe? Diese Fragen wurden nicht immer sauber beantwortet, aber immerhin wieder gestellt. Das allein ist ein Fortschritt. Und vereinzelt hat sich die Bevölkerung an der Abstimmungsurne etwas geleistet, was nüchtern betrachtet wenig vernünftig erscheint, aber als Akt der Selbstbestimmung gelesen werden kann. Eine Botschaft an „die da oben“, die lautet: Der Boss sind wir, vergesst das bitte nicht.
Das Jahr 2025 hat der Schweiz nichts geschenkt. Aber es hat ihr auch nichts genommen, was sie nicht selbst aus der Hand gegeben hätte. Das Land ist nicht schlechter geworden – aber auch nicht besser. Es hat an Klarheit verloren, aber an Bewusstsein gewonnen. Es hat an Unschuld eingebüßt, aber an Erfahrung gewonnen.
Der Zustand der Schweiz am Ende dieses Jahres lässt sich so zusammenfassen: stabil, wohlhabend, leicht verunsichert, aber nicht orientierungslos. Noch ist alles da, was es braucht. Funktionierende Institutionen, geballtes Wissen, große Ressourcen und Vertrauen in das, was kommt. Die Frage ist nicht, ob die Schweiz das nächste Jahr meistert. Die Frage ist, ob sie wieder lernt, sich etwas zuzutrauen. Nicht moralisch, sondern politisch. Nicht laut, sondern selbstbewusst. Das wäre kein Rückschritt. Das wäre Wachstum.
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