Der Warnschuss von Bern

Am vergangenen Samstag verwandelte sich die Stadt Bern in eine Arena der Gewalt – und das ganze Land konnte dabei zusehen. Eine unbewilligte Pro-Palästina-Demonstration eskalierte. 18 Polizistinnen und Polizisten wurden verletzt. Mehrere Hundert Personen wurden kontrolliert, manche festgenommen, später aber wieder freigelassen.
In der Stadtmitte flammten Straßenschlachten auf. Fensterscheiben gingen zu Bruch, ein Restaurant – das „Della Casa“ – geriet in Brand, während dort Personen anwesend waren. Restaurants, Fassaden, Straßenmobiliar: Die Spur der Verwüstung war deutlich sichtbar. Auch die Sicherheitsdirektion verurteilte die Eskalation scharf. Es ist von einem Millionenschaden die Rede.
Was ist da eigentlich passiert? Eine politisch-symbolische Kundgebung wurde zur Kampfzone – inmitten der Bundesstadt Bern, der inoffiziellen Hauptstadt. In einem Land, das seine politische Kultur bis dato als stabil und konfliktfähig ansah. Und plötzlich stehen wir da mit brennenden Trümmern, verletzten Einsatzkräften und der Frage: Wie konnte das geschehen?
Ungleichbehandlung von Demonstrationen
Was stutzig macht – und was man nicht als reines Randphänomen gelten lassen kann – ist der offenkundige Unterschied im Umgang mit Demonstrationen, je nachdem, welches Thema sie bedienen. Während der Corona-Zeit wurden Demonstrationen stark eingeschränkt, oft untersagt. Bewilligungen wurden verweigert, die Auflagen waren streng. Wer auf die Straße wollte, musste sich mit einer enorm bürokratischen Hürde, polizeilichem Druck und der Gefahr von Verboten auseinandersetzen. Doch in diesem aktuellen Fall schien vieles „zugelassen“ zu werden: Großkundgebung, massenhaftes Auftreten, große Nähe zu Konflikten – bis zur Eskalation.
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Warum ist das so? Warum wirken manche Themen wie „heilige Kühe“, bei denen Grenzen verschwimmen? Warum sind Städte, warum sind Behörden so defensiv, wenn Demonstrationen „für Palästina“ angemeldet, toleriert oder zumindest nicht effektiv im Vorfeld unterbunden werden – während bei Corona die vielen kleinen Proteste schon rigoros gedrosselt wurden?
Es wirkt, als gäbe es eine doppelte Messlatte: Bei politischen Themen, die emotional hoch aufgeladen sind und klare internationale Bezugspunkte haben, weichen staatliche Institutionen offenbar schneller aus. Aus Angst vor medialer Empörung, aus Sorge um das Ansehen, vielleicht aus Sorge vor Eskalation.
Belohnt wird, wer Druck ausübt
Doch so spielen wir mit dem Feuer. Wenn wir zulassen, dass Proteste sich in Gewalt entladen, dass das Stadtbild zu Boden gerissen wird, dass Menschen verletzt werden – dann ist das mehr als nur ein Ausrutscher. Es prägt die politische Kultur. Es sendet das Signal: Wer genügend Druck erzeugt, darf übers Ziel hinausschießen. Wer mit Tränengas, Brandstiftungen, zerborstenen Fenstern arbeitet, hat im Zweifel geduldeten „Proteststatus“.
Die Konsequenz: Wir gefährden Vertrauen. Vertrauen in demokratische Institutionen, Vertrauen in Rechtsstaatlichkeit, Vertrauen in Gleichheit vor dem Gesetz. Wenn ein Demonstrationsrecht grob verletzt wird – und weit davon entfernt, effektiv kontrolliert, sanktioniert oder unterbunden zu werden – dann setzt sich eine schleichende Logik durch, in der das Faustrecht zählt. Und das ist fatal.
Diese Bilder von Bern dürfen nicht zur Normalität werden. Behörden, Polizei, Städte müssen sich zusammensetzen, auswerten, harte Lehren daraus ziehen. Bewilligungs- und Sicherheitsverfahren müssen klarer, strenger und konsequenter werden – auch bei Themen, die politisch aufgeladen sind. Es darf nicht sein, dass in einem Monat eine Anti-Hamas-Kundgebung entweder von vornherein mit massiven Auflagen belegt oder gar verboten würde – während eine Pro-Palästina-Demo mit unklarer Koordination gewaltsam durchgeführt wird. Die Gleichbehandlung muss gelten, auch in emotionalen Debatten.
Aufarbeiten und Verantwortung übernehmen
Zudem braucht es gesellschaftliche Wachsamkeit: Bürgerinnen und Bürger, Medien, Politik – alle müssen ein Bewusstsein dafür entwickeln, ab wann friedlicher Protest zur Radikalisierung auf der Straße wird. Es braucht klare Kante: Solidarität mit legitimen Anliegen, Ablehnung von Gewalt, Zerstörung und Einschüchterung.
Schlussendlich handelt es sich nicht nur um ein Ereignis in Bern, sondern um einen Prüfsteinmoment für die Schweiz. Wollen wir eine Gesellschaft sein, in der politisch divergente Meinungen respektiert und geäußert werden können – oder eine, in der der lauteste Schreihals das Straßenpflaster für sich reklamieren darf? Die Antwort darf die offizielle Schweiz nicht erst nach der nächsten Brandnacht formulieren.
Was es stattdessen braucht: Sofortige Aufarbeitung, Transparenz, klare Verantwortung und wirksame Prävention. Und vor allem: eine politische Kultur, die niemals mehr zusieht, wie Protest sich in Chaos verwandelt – sondern rechtzeitig interveniert, bevor Schmerz und Zerstörung entstehen.
Bern hat uns diese Warnung gegeben. Jetzt liegt es an allen, sie ernst zu nehmen.
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