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Kolumne „Der Schweizer Blick“

Die Schweiz, die EU – und die Deutsche Bahn

Wenn man möchte, dass in einer Schweizer Zeitung Klartext gesprochen wird, muss man einen Deutschen holen. Claus Weselsky, Chef der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer, zeichnet im Gespräch im Blick ein vernichtendes Bild der Deutschen Bahn. Lobeshymnen gibt es dafür für die Schweizer Entsprechung, die Schweizerischen Bundesbahnen, kurz SBB. 

Groß argumentieren muss er dafür gar nicht. Es kann jeder selbst zuschauen. In Deutschland knallen bei den Fahrgästen die Champagnerkorken, wenn ein Zug rechtzeitig in den Bahnhof einfährt und diesen tatsächlich auch wieder pünktlich verlässt. Allerdings braucht man nicht besonders viel Champagner, weil das so selten vorkommt. In der Schweiz hingegen versammeln sich die Leute schon fast mit Fackeln zur Mahnwache, wenn die Verbindung mal drei Minuten verspätet ist. 

Jahrhundert-Bauwerk vs. Flughafen

Ein weiteres Beispiel. Die Schweiz eröffnete 2016 den neuen Basistunnel durch das Gotthard-Massiv. Es handelt sich um den längsten Eisenbahntunnel der Welt: Zwei Röhren über jeweils 57 Kilometer Länge in einer Tiefe von bis zu 2.300 Metern. Es war eine Höchstleistung unter schwierigsten Bedingungen. Der Bau dauerte 17 Jahre, so lange wie vorgesehen, weil man das hier für normal hält. Die Baukosten für den Tunnel wurden auf 12 Milliarden geschätzt. Sie lagen am Ende bei 12,2 Milliarden. Jede Kostenüberschreitung bei einem Hallenbad liegt prozentual höher.

Und hier der Vergleich: Berlin brauchte für den Bau eines Flughafens 14 Jahre. Vorgesehen gewesen waren fünf. Der Flughafen Berlin Brandenburg (BER) sollte 1,1 Milliarden Euro kosten und schlug zum Schluss mit 7,3 Milliarden zu Buche. Auftragsabschluss neun Jahre zu spät bei einer Kostensteigerung von 660 Prozent, und das auf einer grünen Wiese und nicht Kilometer unter der Erde. Das muss man auch erst mal schaffen. Einem Häuslebauer könnte man als Unternehmer diese Bilanz schlecht erklären. Bis heute ist die Frage ungeklärt: Hat da eigentlich jemand wirklich gearbeitet?

 

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Das Satiremagazin Der Postillion titelte 2016: „Die können Großprojekte: Flughafen BER wird in der Schweiz zu Ende gebaut.“ Denn so könne dieser in einem halben Jahr verwirklicht werden. Satire bildet die Wirklich eben manchmal am besten ab. Wobei ein halbes Jahr vielleicht zu ambitioniert ist. Neun oder zehn Monate hätten wohl auch die Schweizer gebraucht.

Es soll an dieser Stelle nicht um einen selbstgerechten „Wer ist besser?“-Wettbewerb gehen. Sondern um den Lerneffekt aus diesen Fällen. Braucht die Schweiz die anderen – oder brauchen die anderen mehr Schweiz?

Lernen von Verlierern?

Derzeit debattiert die Schweiz über eine stärkere Anlehnung an die EU. Einmal mehr steht ein „institutionelles Abkommen“ auf der Tagesordnung. Seit die Schweiz Nein gesagt hat zum Beitritt zum damaligen Europäischen Wirtschaftsraum (EWR), wuseln sich die beiden Seiten mit bilateralen Verträgen durch. Glaubt man der Schweizer Regierung, müssen diese nun dringend ausgebaut werden, auch wenn Teile der Schweizer Souveränität dabei leiden würden, weil dann in vielen Bereichen EU-Recht zur Anwendung käme. Die Botschaft lautet: Wir brauchen die stärkere Anbindung an die EU, um zu überleben.

Schweizer Fahnenschwinger

Den Schweizern ist diese Logik schwer zu vermitteln. Wo steckt dieser besagte Überlebenskampf eigentlich? Die Wirtschaft brummt, die Arbeitslosigkeit ist tief, die Infrastruktur funktioniert. Und bei unseren Nachbarn? Österreich ächzt unter einer Rekordinflation. Das Einzige, was derzeit dort wächst, ist die Migration. Deutschland sieht staunend zu, wie Unternehmen abwandern oder einfach die Leitungen kappen. Keine andere große Wirtschaftsnation lahmt dermaßen. Selbst ein mit Sanktionen belegtes Land wie Russland hängt die Deutschen ab.

Deshalb noch einmal: Warum genau braucht die Schweiz diese EU so verzweifelt, deren einst stärkste Flaggschiffe schwächeln? Weil ihre wichtigsten Handelspartner EU-Mitgliedsstaaten sind und sie sonst beleidigt wären? Die Welt ist groß, und als unabhängige Nation kann sich die Schweiz ihre Freunde selbst suchen. Sie ist zudem nicht die hässlichste Braut von allen. „Made in Switzerland“ ist kein schlechtes Gütesiegel. Braucht vielleicht jemand einen Eisenbahntunnel durch ein Gebirgsmassiv am hinteren Hindukusch oder im nördlichen Kanada? Kein Problem, schon unterwegs.

Peitsche statt Zuckerbrot

Natürlich wird die Schweiz mit neuen Verträgen mit der EU nicht formell dazu gezwungen, ab sofort bitte für künstliche Verspätungen im Bahnverkehr zu sorgen. Man verpflichtet sie auch nicht dazu, in Zukunft Jahrhundertbauwerke verspätet und überteuert zu beenden. Aber wer sich einem Apparat unterwirft, in dem diese Szenarien längst akzeptierter Alltag sind, wird früher oder später an derselben Krankheit leiden. Die EU macht ihre Staaten weder fitter noch effizienter. Sie legt sich stattdessen wie ein Bleiring um sie. 

Allmählich scheint in der Schweiz immerhin das Selbstbewusstsein zu wachsen. Züge der Deutschen Bahn, die verspätet an der Schweizer Grenze eintreffen, werden seit einiger Zeit kommentarlos zurückgeschickt. Denn es gibt wirklich keinen Grund, das eigene funktionierende Schienensystem leiden zu lassen, nur weil der Nachbar die Uhr nicht kennt. Das ist die einzige Sprache, welche die EU versteht. Das mit dem Zuckerbrot hat nicht funktioniert. Also her mit der Peitsche.

In letzter Konsequenz muss man sich angesichts der real existierenden Wirtschaftsdaten ohnehin fragen: Sollte nicht vielleicht die Europäische Union einige der Rezepte der Schweiz übernehmen statt umgekehrt?

 

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