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Kolumne „Der Schweizer Blick“

Hat das Volk noch das Sagen?

Osamah M. stammt aus dem Irak, wohnt im Kanton Schaffhausen und hat eine Schwäche für den Islamischen Staat (IS). Für diesen plante er eine Reihe von Bombenanschlägen. Er flog rechtzeitig auf und wurde zu einer Haftstrafe verurteilt, nach der er das Land verlassen sollte. Inzwischen ist er auf freiem Fuß – und hält sich nach wie vor in der Schweiz auf. 

Didinga E. aus Eritrea wollte eine Frau vergewaltigen, nahm sexuelle Handlungen an einem Schaf vor, fiel durch Diebstahl auf und bedrohte Polizisten. Dem Gefängnisaufenthalt sollte ebenfalls ein Landesverweis folgen. Dieser trat aber nie in Kraft, denn Eritrea nimmt keine Landsleute zurück.

Kushtrim D. aus dem Kosovo wollte einen Geldtransporter überfallen, beging Körperverletzung und warf einen Knallkörper in eine Bar. Er sollte die Schweiz verlassen, ist aber bis heute dort. In seiner alten Heimat, so die Begründung, habe er kaum Verwandtschaft.

Das sind drei Beispiele aus einer langen Liste von Fällen, die es gar nicht geben dürfte. Denn alle drei Ausländer haben Delikte begangen, die automatisch zu einer Abschiebung aus der Schweiz führen müssten. Wie aktuelle Zahlen zeigen, werden Landesverweise von den Kantonen sehr unterschiedlich gehandhabt. Einige von ihnen haben sehr wenig Lust auf diesen Aufwand.

Initiative zur Abschiebung krimineller Ausländer nicht umgesetzt

Dabei wäre politisch alles klar. Am 28. November 2010 sagte eine Mehrheit der Schweizer Ja zur sogenannten Ausschaffungsinitiative der Schweizerischen Volkspartei (SVP), einer Initiative zur Abschiebung krimineller Ausländer bei bestimmten Straftaten. Konkret ging es um schwere Delikte gegen Leib und Leben, Sozialhilfemissbrauch, Drogenhandel und Einbruch.

Zur Erinnerung: 2010 brachte Apple sein erstes iPad auf den Markt, die erste Version von Instagram ging online und der erste funktionierende digitale 3D-Drucker wurde vorgestellt. Das alles ist inzwischen längst kalter Kaffee, sprich: Es ist sehr lange her. Und doch ist auch nach diesen 15 Jahren kaum etwas geschehen: Die Ausschaffungsinitiative wurde nie wie von ihren Initiatoren beabsichtigt umgesetzt.

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In der Schweiz werden Initiativen, bevor sie dem Volk vorgelegt werden, auf Herz und Nieren geprüft. Man kann grundsätzlich alles fordern, aber wer via Volksbegehren verlangt, dass der Himmel über dem Land rosa gestrichen wird, muss damit rechnen, dass sein Wunsch mangels Durchführbarkeit schon im Prüfverfahren aus dem Rennen fällt.

Bei der Ausschaffungsinitiative schien zum Zeitpunkt der Abstimmung keine grundsätzliche Einschränkung vorzuliegen. Kaum hatte jedoch eine Mehrheit entschieden, sah es anders aus. Eine automatisierte Abschiebung von kriminellen Ausländern widerspreche der Bundesverfassung und internationalen Menschenrechtsabkommen, hieß es plötzlich.

Ein Wildwuchs von Härtefällen

Deshalb wird die Landesverweisung seither nur in besonders schweren Fällen ausgeführt – und für den großen Rest gibt es die Härtefallklausel. Diese kommt zur Anwendung, wenn die betroffene Person das Glück hat, im Heimatland keine Verwandten zu haben. Dann darf sie bleiben. Egal, wie sehr sie die Gesetze der Wahlheimat mit Füßen tritt.

Ein Blick in die internationalen Verpflichtungen, welche die Schweiz angeblich daran hindern, einen Volkentscheid durchzusetzen, fördert Seltsames zutage. So verbietet es beispielsweise die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK), Menschen „willkürlich auszuweisen“. Nur: Was ist denn willkürlich daran, jemanden des Landes zu verweisen, der hier nur Gast ist und dann beschlossen hat, Bombenanschläge zu planen, Frauen zu vergewaltigen oder Geldtransporter zu überfallen?

Die Ausschaffungsinitiative ist weder die erste noch die letzte Volksinitiative, die auf die lange Bank geschoben oder nicht in der geforderten Form umgesetzt wurde. Dasselbe geschah auch bei der Initiative „Gegen Masseneinwanderung“. Diese wollte dafür sorgen, dass die Schweiz die Zuwanderung selbst steuern kann. Auch hier sagte das Volk Ja – und das Parlament verstümmelte die Vorlage bis zur Unkenntlichkeit. Denn buchstabengetreu lasse sie sich nicht umsetzen, ohne mit EU-Verträgen zu kollidieren.

Das Vertrauen in die Politik schwindet

Die Angst der offiziellen Schweiz, vor Europa in Ungnade zu fallen, muss riesig sein. Der Preis, den das Land allmählich für diese Angst bezahlt, ist aber genau so hoch. Der schweizerisch-britische Historiker Oliver Zimmer spricht im Fall der Masseneinwanderungs-Initiative von einem „demokratiepolitischen Sündenfall“ und befürchtet, dass das Vertrauensverhältnis zwischen den Bürgern und der Politik dadurch immer mehr in Schieflage gerät.

Denn wenn das Parlament das Ja des Volks im Nachhinein regelmäßig relativiert bis ignoriert, wird das geflügelte Wort von „denen da oben“, die ohnehin machen, was sie wollen, von der Stammtischwahrheit zur gelebten Realität. Die Konsequenz ist die Unlust, sich an der Demokratie zu beteiligen und eine wachsende Distanz zum Staat.

Der mahnende Zeigefinger irgendwelcher EU-Funktionäre in Richtung Schweiz mag eine umgehende drohende Reaktion sein. Die zunehmende Entfremdung zwischen Politik und Bürgerschaft verläuft schleichender, ist aber auch folgenreicher. Das System der Schweiz basiert auf der Prämisse, dass das Volk das Sagen hat. Ist das nur noch theoretisch der Fall, ist irgendwann auch das bisherige Erfolgsmodell nicht mehr als eine Theorie.

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