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Kolumne „Der Schweizer Blick“

Revolution der Zwerge

Appenzell Innerrhoden ist der bevölkerungsmäßig kleinste Kanton der Schweiz. Etwas über 15.000 Menschen leben hier. Das reicht in den meisten Ländern höchstens zum Prädikat „Kleinstadt“. Es gibt hier gutes Bier, guten Käse, einen legendären Kräuterlikör und ein wunderschönes Alpenpanorama. Aber der Nabel der Weltpolitik ist die Gegend nicht.

Für die Verlautbarungen des Kantons auf der Plattform „X“, vormals Twitter, interessierten sich bisher noch weniger Leute, als es Einwohner gibt. Rund 170 Abonnenten verzeichnete der Kanal zuletzt. Das erreicht man als normaler privater Nutzer mit einem durchschnittlichen Freundeskreis bereits nach wenigen Tagen. Kaum jemand wollte also wissen, was die Regierung und die Behörden von Innerrhoden zu sagen hatten.

Dennoch befand die politische Führung von Appenzell Innerrhoden die eigene Bedeutung in der Welt der sozialen Medien offenbar für groß genug, um ein lautstarkes Zeichen zu setzen. Den erwähnten Kanal auf „X“ gibt es nämlich nicht mehr. Der Kanton hat seinen Account medienwirksam gelöscht. Mit diesem Schritt wollte man ein Zeichen setzen gegen die Entwicklung, die eingesetzt hatte, nachdem Elon Musk das einstige Twitter übernahm.

„Haltung“ falsch interpretiert

Was ist im Vorfeld geschehen? Sind die Innerrhoder mit Fackeln und Heugabeln Sturm gelaufen gegen die Präsenz auf dem ungeliebten Medium? War die Bevölkerung in Aufruhr? Nicht ganz. Es war eine Entscheidung aus dem behördlichen Elfenbeinturm. Die Begründung lautet sinngemäß übersetzt: „Man liest überall, dass dieser Musk ein Böser ist und sich ‘X’ unter seiner Führung negativ entwickelt hat – also gehen wir vorsichtshalber mal raus.“ Es sei eine Frage der „Haltung“, wurde großspurig verkündet.

Mit dem Thurgau, ebenfalls im Osten der Schweiz gelegen, aber signifikant größer, überlegt sich ein weiterer Kanton den Abgang aus „X“, und das aus denselben Gründen. Auch hier kann man nicht genau sagen, worin das Problem liegt, aber man liest eben so viel Schlechtes, da macht man sich besser frühzeitig vom Acker. Imagepflege heißt neuerdings nicht mehr, etwas besonders gut zu machen, sondern alles zu vermeiden, was irgendjemand falsch finden könnte. Im Idealfall schon, bevor einer meckern kann.

Das soll angeblich „Haltung“ demonstrieren. Vielleicht müssten die Verantwortlichen solcher Entscheidungen die Bedeutung des Worts noch einmal nachschlagen. Haltung beweist, wer an dem festhält, an was er glaubt, und das entgegen allen Widerständen. Einzuknicken wie eine Sonnenblume im Wind ist kein Merkmal für Haltung, sondern sogar das exakte Gegenteil.

Lieber Zensur als Meinungsfreiheit

Um die Tragweite des Geschehens zu verstehen, muss man die regionalen Voraussetzungen kennen. Appenzell Innerrhoden und der Thurgau sind gemessen am Abstimmungsverhalten ihrer Bürger wertkonservative, bürgerliche Gegenden. Wann immer der Staat versucht, seine Macht auszubauen, Steuern zu erhöhen oder die Privatsphäre auszuhöhlen: Von hier kommt verlässlich Opposition gegen alles, was die Freiheit einschränkt. Der Osten der Schweiz ist die Insel des Widerstands.

Es ist deshalb schwer vorstellbar, dass eine Mehrheit der Menschen in den beiden Kantonen ein Problem mit einer Plattform hat, die für Meinungsfreiheit und gegen Zensur steht. Die Regierungen nehmen sich dennoch die Freiheit, auf einen Publikationskanal zu verzichten, weil der Zeitgeist das fordert. Ein paar negative Schlagzeilen in den Mainstreammedien reichen offenbar für Schockwellen in den Amtsstuben.

Vielsagend auch: Keiner der beiden Kantone hat mit dem einstigen Twitter vor der Ära Musk Probleme bekundet. Damals war alles noch bestens. Vielleicht sind die „Twitter Files“ an den Verantwortlichen vorbeigegangen. Diese haben enthüllt, dass sich die früheren Besitzer der Plattform den Behörden von FBI bis CIA andienten und alles taten, um staatskritische oder aufdeckende Beiträge auszublenden. Vor Musk war Twitter eine geschützte Werkstätte mit dem Gütesiegel der Regierungen. Selbst die banalste Wahrheit musste unterdrückt werden, wenn sie dem Narrativ der Mächtigen widersprach.

Die Gewählten entfernen sich von ihren Wählern

Elon Musk hat daraus „X“ gemacht mit dem Vorsatz, die freie Rede zu ermöglichen. Nun darf wieder jeder sagen, was er will, und die eigenverantwortlichen und durchaus intelligenten Bürger können selbst beurteilen, was sie davon glauben und was nicht. Wenn ein Kanton in der Schweiz das nun furchtbar findet und aussteigt und ein zweiter mit einem Abgang liebäugelt: Was sagt uns das über die Leute, die am Drücker sind? Wie viel Vertrauen haben sie in ihre „Untergebenen“ und in die eigene Arbeit?

Aber eben: Wir sprechen von Zwergen. Viel passieren wird nicht. Die 170 Follower des „X“-Accounts von Appenzell Innerrhoden werden den Verlust verschmerzen können, und Elon Musk dürfte angesichts dieser Ereignisse auch keinen Defibrillator nötig haben. Er wird sogar nie davon erfahren.

Große Entwicklungen präsentieren sich allerdings gern in kleinen Ereignissen. So banal das Geschehene anmuten mag, es steht für eine allgemeine Entwicklung. Die Gewählten entfernen sich von ihren Wählern. Regierungen haben immer weniger gemein mit denen, die sie ins Amt gesetzt haben. Sie sprechen von Haltung – und meinen eigentlich bedingungslosen und ängstlichen Konformismus.

 

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