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Kolumne „Der Schweizer Blick“

Die Grenzen des Zumutbaren

Wolfisberg im Kanton Bern hat alles, was der Mensch begehrt. Jedenfalls, wenn er nichts begehrt außer absoluter Ruhe. Nirgends kann man seine Seele so baumeln lassen wie hier. Malerische Bauernhöfe, fast nur Einfamilienhäuser, paradiesische Aussicht. Es gibt keinen Laden, es gibt keine Schule, es gibt keinen öffentlichen Nahverkehr, der die Stille stört. Wer gern abgeschnitten von der Welt leben möchte: Besser geht es nicht.

180 Personen wohnen hier. Demnächst kommen 120 dazu, zumindest temporär, wobei niemand weiß, wer genau kommt und für wie lange. Das Dorf im Kanton Bern expandiert wegen der Migrationspolitik. 120 Flüchtlinge werden erwartet, die hier neu einziehen. Von 180 auf 300: Vielleicht muss man eher von einer Explosion als von einer Expansion sprechen.

Warum gerade Wolfisberg? Das Dorf hat nicht viel, aber immerhin ein leerstehendes Hotel. Die etwas mehr als 20 Zimmer werden nun bevölkert. Denn der Kanton Bern sucht händeringend nach Unterbringungsmöglichkeiten für Flüchtlinge, die ihm vom Bund zugeteilt wurden. Das einzige Rezept: Man nimmt, was man kriegt, und redet sich das Gefundene danach schön. Auf dem zum Hotel gehörenden großen Gelände gebe es Spielgeräte, das sei ideal für Kinder, sagen die Behörden, es eigne sich also sehr gut.

Eine Dorfgemeinschaft wird von einem Tag auf den andern um 66 Prozent aufgebläht mit Menschen aus anderen Kulturkreisen, die dort nicht einkaufen können, die von dort nicht wegkommen, die dort keine Beschäftigung haben. Aber im Garten steht eine Schaukel. Was will man mehr?

Ein Dorf vor dem Umbruch

Einiges wird sich ändern. Die Menschen in Wolfisberg lassen gern ihre Haustür offen. Und die Autotür. Weil jeder jeden kennt und sich niemand sonst hierher verirrt. Sie fragen sich nun, ob sie das weiterhin tun können. Unterschwellig, teils auch deutlicher, wird ihnen in den sozialen Medien deshalb Rassismus vorgeworfen. Ausländer sind schließlich nicht einfach generell kriminell.

Das ist wahr. Kriminell, nicht im strafrechtlichen, sondern im moralischen Sinn, ist es sehr viel mehr, ein bestehendes Gebilde zu belasten mit einer solchen Dimension an neuen Bewohnern. Wie kommt man in einer Amtsstube auf die Idee, das ausgerechnet in einem Dorf zu tun, das Schauplatz einer Geschichte von Jeremias Gotthelf oder Gottfried Keller sein könnte?

Natürlich beziehe man das Zahlenverhältnis zwischen Einheimischen und Flüchtlingen bei Standortentscheiden mit ein, sagt ein Vertreter des Kantons Bern. Aber dieser Faktor habe im Fall Wolfisberg nichts an der „sonst rundum positiven Beurteilung“ geändert. Die Lage eigne sich sehr gut für die Unterbringung von Migranten. Warum das bitte? Stimmt, das Hotel hat einen Garten mit Spielgeräten. Und womit spielen die Erwachsenen den ganzen Tag?

„Stinklangweilig“, aber „geeignet“

Die Menschen, die dort wohnen, beurteilen die Lage nüchterner. Sie sind gerne hier, bezeichnen das Dorf aber selbst als „stinklangweilig“. Das ist für sie eine Qualität, aber wie sieht es mit den 120 Menschen aus, die von irgendwo her ins Grüne gekarrt und dann sich selbst überlassen werden? Wer nach acht Stunden im Büro oder auf der Baustelle bei einem Glas Wein von der Terrasse aus ins grüne Panorama blickt, genießt es. Wer den ganzen Tag zusammen mit vier oder fünf anderen in einem Hotelzimmer sitzt, weit weg von Familie und Freunden, dürfte die Faszination daran schnell verlieren.

Das Konfliktpotenzial ist riesig. Wer keine Zerstreuung hat, verarmt geistig. Wer nicht mal schnell woanders hin kann, fühlt sich eingesperrt, so frei die Natur auch sein mag. Langeweile ist der Nährboden für alles, was man besser nicht tun sollte. Und vielleicht sonst auch nie tun würde. Die Wolfisberger sind keine Rassisten. Sie verfügen einfach über gesunden Menschenverstand. Sie wissen genau: Das hier ist kein Ort für Leute, die ihn nicht selbst gewählt haben.

Integration ist der Schlüssel zum Erfolg bei der Bewältigung der Migration, sagt die Politik. Man muss die Neuankömmlinge nur willkommen heißen, ihnen den Weg zur Sprache und zur Gesellschaft ebnen, dann sind sie bald Teil der neuen Heimat. Aber wo lernen 120 Flüchtlinge in einem Dorf mit 180 Menschen Deutsch? Wo wenden sie diese neuen Kenntnisse an? Wie sollen sie in der Gesellschaft „ankommen“, wenn sie in einem Umfeld wohnen, das aussieht wie eine Postkarte aus der Schweiz, aber selbst für hiesige Verhältnisse ein nacktes Klischee ist? Und von dem es kein Wegkommen gibt?

Die Probleme nach unten delegieren

Man sollte nicht immer vom schlimmsten Fall ausgehen. Aber vielleicht auch nicht einfach vom besten. Die Vorstellung, dass schon bald gemeinsame Dorffeste stattfinden und Wolfisberger und Afghanen, Syrer oder Marokkaner gemeinsam Karten spielen am Stammtisch des Dorflokals, ist herrlich romantisch. Und grenzenlos naiv.

Die Gemeinde Niederbipp, zu der das Dorf Wolfisberg gehört, hat zunächst ganz andere, praktische Sorgen. Es werden Kinder kommen, die zur Schule müssen. Also braucht es einen neuen Schulbus. Die Mehrkosten werden zunächst auf 100.000 Franken beziffert, und das, nachdem kürzlich die Steuern erhöht und sich die Gemeinde ein Sparprogramm auferlegt hat. Auf diesen Ausgaben bleibt sie sitzen. Der Bund lässt Leute rein, der Kanton teilt sie zu, die Gemeinde darf schauen, wie sie das Problem löst.

Wolfisberg entsteht immer dann, wenn die Politik „Lösungen“ skizziert, die an der Lebensrealität vorbeigehen. Jedem Kind ist klar, dass das nicht funktionieren kann. Aber Hauptsache, in der Excel-Tabelle sind wieder 120 Felder frei. Zahlenspiele ersetzen den Verstand.

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Kommentar
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p. meersheim
Vor 8 Monate 3 Wochen

Danke für diesen Artikel, der unverblümt und sachlich ist und genau auf den Punkt bringt, was Sache ist.
Doch so wahr und beelendend diese Zeilen sind, werden sie doch nichts ändern. Zu viele sehen die Sorgen und Ängste der Bevölkerung durch die parteipolitische Brille, statt auch nur zu versuchen, ein gewisses Verständnis für die betroffenen Einwohner aufzubringen.
Und so lange es solche Denkmuster gibt, wird das Problem nicht bei der Wurzel angepackt und nicht gelöst werden. Man verurteilt lieber die eigene Bevölkerung, wenn sie aufmuckst, weil ihre Sicherheit und ihr wohl und hart verdienter Lebensstandard in Gefahr ist.

3
H.u.P.Dornfeld
Vor 8 Monate 4 Wochen

Das deutsche Parallelbeispiel berechtigten Widerstands ist so offenkundig, dass nicht einmal das ZdF hier von Rassismus sprechen mochte, sondern nur von 'Skepsis':

04.02.2023 ZDF https://www.zdf.de › Nachrichten › Politik Skepsis in Upahl: 500 Einwohner und 400 Geflüchtete — Im 500-Einwohner-Dorf Upahl in Mecklenburg-Vorpommern soll eine Flüchtlingsunterkunft für 400 Geflüchtet gebaut werden.

Dass selbst die Linke sich neuerdings 'rächts' gebärdet, ist aufschlussreich:
"...Hotel in Gägelow. Erneut Widerstand durch die Gemeinde. In der Gemeindevertretung sitzt seit 2004 die stellvertretende Ministerpräsidentin Simone Oldenburg (Die Linke). Sie ist zugleich stellvertretende Bürgermeisterin..."

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p. meersheim
Vor 8 Monate 3 Wochen

Danke für diesen Artikel, der unverblümt und sachlich ist und genau auf den Punkt bringt, was Sache ist.
Doch so wahr und beelendend diese Zeilen sind, werden sie doch nichts ändern. Zu viele sehen die Sorgen und Ängste der Bevölkerung durch die parteipolitische Brille, statt auch nur zu versuchen, ein gewisses Verständnis für die betroffenen Einwohner aufzubringen.
Und so lange es solche Denkmuster gibt, wird das Problem nicht bei der Wurzel angepackt und nicht gelöst werden. Man verurteilt lieber die eigene Bevölkerung, wenn sie aufmuckst, weil ihre Sicherheit und ihr wohl und hart verdienter Lebensstandard in Gefahr ist.

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H.u.P.Dornfeld
Vor 8 Monate 4 Wochen

Das deutsche Parallelbeispiel berechtigten Widerstands ist so offenkundig, dass nicht einmal das ZdF hier von Rassismus sprechen mochte, sondern nur von 'Skepsis':

04.02.2023 ZDF https://www.zdf.de › Nachrichten › Politik Skepsis in Upahl: 500 Einwohner und 400 Geflüchtete — Im 500-Einwohner-Dorf Upahl in Mecklenburg-Vorpommern soll eine Flüchtlingsunterkunft für 400 Geflüchtet gebaut werden.

Dass selbst die Linke sich neuerdings 'rächts' gebärdet, ist aufschlussreich:
"...Hotel in Gägelow. Erneut Widerstand durch die Gemeinde. In der Gemeindevertretung sitzt seit 2004 die stellvertretende Ministerpräsidentin Simone Oldenburg (Die Linke). Sie ist zugleich stellvertretende Bürgermeisterin..."