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Kolumne „Der Philosoph“

Heilsame Wahrnehmungsstörung

Unter dem Namen „Snicklink“ erstellt ein deutscher Videokünstler seit einiger Zeit satirische Deepfakes von deutschen Politikern und anderen Medienpersönlichkeiten, wie etwa dem Fernsehmoderator Markus Lanz, dem kanadischen Psychologen Jordan Peterson oder dem Vorsitzenden des Weltwirtschaftsforums Klaus Schwab.

Auf den ersten Blick wirken die Stimmen, Gesichter und Mundbewegungen täuschend echt, aber auf den zweiten wird deutlich, dass die Realität hier eine künstlerisch veränderte ist. Und auch wenn sich die Welt in vielen Bereichen zunehmend ihrer eigenen Satire annähert, dürfte bei Snicklinks Videos jedem halbwegs kompetenten Medienkonsumenten klar sein, dass hier die Wirklichkeit aufs Korn genommen wird.

Kaum Unterschied zwischen Fake und Realität

Dies allerdings hat etwa die „Faktenchecker“ des spendenfinanzierten Onlinemediums Correctiv nicht davon abgehalten, ihren eigenen Mangel an Medienkompetenz dadurch kundzutun, dass sie meinten, diverse Satirevideos von Snicklink als „manipuliert“ entlarven zu müssen. Auch wenn das in diesem Fall in etwa so sinnvoll ist, wie Jonathan Swifts „Gullivers Reisen“ als gefälschten Reisebericht brandmarken zu wollen, scheinen Deepfakes im Allgemeinen durchaus ein nicht gerade kleines Gefahrenpotenzial in sich zu bergen.

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Pornographische Deepfakes können schon jetzt die Ehre verletzen, den Ruf zerstören und die Opfer zusätzlich brutalem Mobbing aussetzen. Auch als propagandistische Mittel im Bereich des Politischen dürften Deepfakes gerade angesichts des zu erwartenden technologischen Fortschritts in absehbaren Zukunft enorme Wirkung entfalten können. Was, so lautet die bange Frage, wenn sie sich von Laien einfach erstellen lassen und dabei so täuschend echt wirken, dass sie weder auf den zweiten noch auf den dritten Blick, ja überhaupt nicht mehr mit dem bloßen Auge von der Realität zu unterscheiden sind?

Nun, ich denke, dass dieser Fall – sollte er denn tatsächlich eintreffen – neben einer Verschärfung all jener Probleme, die bereits jetzt bestehen, auch eine heilsame Wirkung auf unseren immer noch viel zu naiven Umgang mit medialen Bildern haben könnte.

Ungesunde Naivität bei Fotos und Videos

Noch immer nämlich vertrauen wir fotografischen Bildern und Videos zu leichtfertig und unkritisch. Dies dürfte auch mit einer Besonderheit dieses Mediums zu tun haben: Während wir ein Gemälde oder eine Zeichnung immer als eine bestimmte Repräsentation der abgebildeten Sache oder Person wahrnehmen, scheinen wir im Fall der Fotografie (und für die Videofotografie gilt freilich dasselbe) durch das Bild hindurchzusehen und die Realität selbst zu erblicken.

Der amerikanische Philosoph Kendall Walton (*1939) hat dies als die Transparenz der Fotografie bezeichnet. Liefert ein Privatdetektiv seiner Klientin Foto- oder Videomaterial, das den Ehemann beim Seitensprung zeigt, ist der Fall klar. Eine Bleistiftskizze des Ehebruchs hingegen wird niemand als Beweis gelten lassen.

Schon immer, also auch vor der Existenz moderner Bildbearbeitung und Deepfakes, galt, dass der unmittelbare Realitätsbezug, den Fotos und Videos aufgrund ihrer Transparenz zu verbürgen scheinen, trügerisch sein kann. Denn offenbar kann alles auf Foto oder Video Gezeigte gestellt, retuschiert, inszeniert oder aus dem zeitlichen und räumlichen Kontext gerissen sein.

Twitter, Instagram und TikTok oft Fake-Schleudern

Die aktuellen Geschehnisse im Nahen Osten seit dem terroristischen Angriff der Hamas auf Israel am siebten Oktober bieten dafür reichlich Anschauungsmaterial: Auf X kursieren massenhaft Fotos und Videos brutaler Szenen und Gräueltaten, für die abwechselnd die Hamas oder die Israelis verantwortlich gemacht werden. Nur in wenigen Fällen lässt sich aber nachverfolgen, wo und wann diese Bilder entstanden sind und was sie eigentlich zeigen. Auffällig dabei ist, wie viele Menschen offenbar alles, was sie sehen, samt narrativer Rahmung für bare Münze nehmen.

Wenn es nun einmal tatsächlich dazu kommen sollte, dass Fotos und Videos aufgrund der Allgegenwart täuschend echter Deepfakes ihre „Tranzsparenz“ im Sinne Waltons verlieren, könnte dies unserer ungesunden Naivität einen heilsamen Schock versetzen. Betrachteten wir Fotos und Videos routinemäßig wie Gemälde oder Trickfilme, dann wären wir durch die Propaganda der Bilder kaum mehr hinters Licht zu führen. Bis es allerdings so weit ist, sollten wir weiter Snicklinks Kunst genießen und gegenüber jedem vermeintlichen Beweisfoto oder -video eine hartnäckige Skepsis an Tag legen.

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