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Kolumne „Kaffeehaus“

Enthüllungsbücher und der Wert des Schweigens

Indiskretion als Geschäftsmodell scheint im Trend zu liegen. Gleich zwei Enthüllungsbücher rüttelten kürzlich die Institutionen Kirche und Monarchie auf: „Spare“ (deutscher Titel „Reserve“) von Prinz Harry und „Nichts als die Wahrheit“ vom ehemaligen Papstsekretär Georg Gänswein. Wie die aufsehenerregenden Buchtitel schon verraten, erhoffen sich die Autoren und deren Verleger viel Erfolg durch die Publikationen.

Nun soll hier nicht der treue Begleiter des emeritierten Papstes auf eine Stufe mit Prinz Harry gestellt werden. Die Absichten der Verfasser waren ohne Zweifel unterschiedlich. Beide verbindet jedoch, dass sie den Hauptprotagonisten und der eigenen Reputation eher schadeten. Prinz Harrys Beliebtheitswerte sinken weiterhin und Erzbischof Gänswein verliert an Vertrauenswürdigkeit.

„Reserve“ wurde bereits am Veröffentlichungstag millionenfach verkauft. In mehreren Ländern brach der Titel den Rekord für das meistverkaufte Sachbuch in den ersten Tagen nach dem Erscheinen. In seiner Autobiographie rechnet Prinz Harry mit seiner Familie ab, vor allem mit seinem Bruder William, den er auch als Erzfeind bezeichnet. Die vermutlich stärkste Aussage des Buches ist die Beschreibung des Traumas, das der Tod seiner Mutter und die mangelnde Aufarbeitung dieser Tragödie auslöste.

Eine „ungehörige Indiskretion“

Wenn Harry darüber berichtet, wie man ihm angesichts des Todes der geliebten Mutter mit einer emotionalen Kälte begegnete, werden die meisten Leser mit ihm mitfühlen. Als er dann seine Berichte um intime Geständnisse bereichert, wie er zum Beispiel seine Jungfräulichkeit hinter einem Pub verlor, wie er Kokain und „Magic Mushrooms“ konsumierte und wie er seine erfrorenen Genitalien mit einer Elizabeth-Arden-Creme einrieb, die schon seine Mutter liebte, wird man sich nach dem Sinn solcher Aussagen fragen.

Georg Gänswein gewährt in seinem Buch sowohl einen Blick hinter die Kulissen seines Wirkens an der Seite des verstorbenen Papstes Benedikt XVI. als auch der historisch einzigartigen Papstkonstellation: eines amtierenden und eines emeritierten. Nicht nur die Form und der Zeitpunkt der Herausgabe waren fragwürdig, sondern es ist auch unklar, inwiefern die Schilderungen relevant sind und zum Wohl der Kirche beitragen.

Erzbischof Gänswein verärgerte nicht nur den Vatikan, sondern beispielsweise auch den Wiener Kardinal Schönborn, der als enger Vertrauter des emeritierten Papstes Benedikt XVI. galt und Gänsweins Buch eine „ungehörige Indiskretion“ nannte.

Vielleicht passt diese ichbezogene und selbstentblößende Art zum Zeitgeist. Auch wegen der sozialen Medien ist ein neues Ideal der Authentizität entstanden. Wer die eigenen Empfindungen komplett offenbart, der wird als stark und authentisch betrachtet. Die Grenzen dessen, was andere über unsere eigene Verletzlichkeit wissen sollen und dürfen, sind nicht vorhanden.

Geschäft oder Therapie?

Ist es ein reines Geschäft oder eine seltsame Form der Therapie vor den Augen der Welt? Die amerikanische Influencer-Familie Kardashian ist wohl das beste Beispiel für das Geschäft mit der Indiskretion. Ihre vielen Millionen verdanken die Kardashians in erster Linie dem Verkauf der eigenen Privatsphäre in Form einer Reality-Show und Präsenz in den sozialen Netzwerken.

Ohne das kaufmännische Geschick leugnen zu wollen, wird man sich nach den gesellschaftlichen Folgen eines solchen Trends fragen. Wie ist ein solcher seelischer Exhibitionismus mit der eigenen Würde und der Würde anderer, die darin vorkommen, kompatibel?

Patti Davis, die Tochter des ehemaligen amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan, erinnerte uns vor ein paar Tagen in ihrem Essay für die New York Times daran, dass dieses Phänomen doch nicht so neu ist. Bereits 1992 veröffentlichte sie ihre Autobiographie mit dem Titel „The Way I See it“ („Wie ich es sehe“). Darin distanzierte sie sich von ihrer Familie, vertrat gegenteilige politische Ansichten und kritisierte ihre Eltern öffentlich.

„Schweigen gibt dir Raum und Distanz“

Bis heute bedauert die 70-jährige Davis die Veröffentlichung des Buches. Sie verglich ihre Erfahrungen mit denen von Prinz Harry und erklärte, dass die Kraft der Worte anhaltend sei und tiefe Narben hinterlasse. „Es gibt nicht nur eine Wahrheit, unsere Wahrheit, die anderen Menschen, die in unserer Geschichte vorkommen, haben auch ihre Wahrheiten“, erklärte Davis.

Harry riet sie deshalb, das Schweigen als Option zu erwägen: „Schweigen gibt dir Raum, es gibt dir Distanz und es lässt dich deine Erfahrungen vollständiger betrachten.“ Und ich ergänze mit Sokrates: Schweigen ist immer eine Option, wenn das, was gesagt werden soll, nicht wahr, gut und notwendig ist.

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