Achtsamkeit gewinnt – aber auch nicht immer
„Päää“, habe der Pfarrer gerufen. So viel stehe gerichtlicherseits fest, berichte ich Judith. Wir unterhalten uns über einen aktuellen Rechtsfall: Ein Geistlicher vom Niederrhein soll seinen Diakon mal in der Sakristei, mal zwischen den Kirchenbänken von hinten erschreckt haben, worauf der Mann – eine offenbar empfindliche Seele – nur noch mit Mühe nach Hause gekommen sei, nicht mehr richtig reden und gucken konnte und fast kollabiert sein soll. Jetzt ist der Pfarrer wegen Körperverletzung dran.
Judith empfindet ein aus der Pistole geschossenes „Päää“ auch als höchst unachtsam. Ich bin da nicht so empfindlich. Ein Sankt Martin sei an mir nicht unbedingt verlorengegangen, musste ich mir neulich anhören.
„Ich bin komplett im Eimer, aber ich lächle dabei“
Und es stimmt ja: Ich halte Achtsamkeit eher für die spirituelle Version von: „Ich bin komplett im Eimer, aber ich lächle dabei.“ Dein Leben ist ein brennender Müllcontainer, aber du sitzt davor, atmest tief ein und sagst: „Schön, wie das Feuer knistert.“ Manager, die früher ihre Leute zur Grillparty mit den Worten empfingen, „Du bist das Würstchen“, müssen heute wildfremden Praktikanten nach drei Wochen „Feedback“-Gespräche liefern, weil sie sonst als emotionaler Diesel gelten.
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„Wer achtsam ist, hat zwar auch keine Minute Zeit, kein Wochenende und keinen Urlaub – aber er ist immerhin im Hier und Jetzt“, erkläre ich meiner Frau. Ich lege möglichst viel Verächtlichkeit in meine Stimme, während ich in dieser freien Minute den Kamin ausfege. Er hat oben ein abgewinkeltes Rohr, in dem sich der Ruß sammelt. Das Rohr hat eine Öffnung, in der ich feucht herumwische und eine ziemliche Sauerei veranstalte.
Asche zu Asche, Mann zu Frau
„Und wer unachtsam ist, verteilt den Ruß in der ganzen Wohnung“, sagt sie. Ich wasche mir die Hände – und jetzt ist auch das Waschbecken schwarz. Judiths Gesicht verfinstert sich. Möglicherweise ist es ein bisschen besser, ich räume das Feld, denke ich, gehe nach oben und schließe die Tür.
Als ich später wieder hinunterkomme, brennt das Holz im Kamin, die Hündin räkelt sich davor, der Sonntagsbraten duftet im Ofen, aus den Boxen kommt David Bowies Stimme: „Ashes to ashes“. Der Pfarrer ist freigesprochen worden. Asche zu Asche, Mann zu Frau. Schornsteinfeger bringen Glück. „Päää“, hauche ich Judith so sacht hinters Ohr, dass selbst der Sonntagsbraten Gänsehaut bekommt.
Kommentare
Ich lehne mich jetzt sehr weit aus dem Fenster, ich weiß. Jedoch ist "Missbrauch "heutzutage auch ein Problem der Betrachtung. Siehe Schweinezyklus .Shitstorm beginne.
Wahrlich erheiternd und mit leichter Feder verfasst.