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Kolumne „Ein bisschen besser“

Kommt Olaf Scholz aus der Gosse?

Judith hat mir jetzt von einem Starkoch erzählt, der sich aus der Gosse hochgearbeitet hat. Ich habe skeptisch geguckt, denn ich kenne gar nicht so viele Gossen, wie Menschen, die sich aus ihnen emporgearbeitet haben. 

Olaf Scholz‘ Großvater war Eisenbahner, das ist jetzt nicht Gosse, aber immerhin Bahndamm und der Kanzler betont es, weil es nach ehrlicher Hände Arbeit klingt. Der inzwischen gestürzte Immobilienkönig René Benko hat seine einfache Herkunft stets betont, weil so sein Aufstieg noch märchenhafter erschien. 

Ja, selbst Napoleon war eines von acht Kindern und wuchs in einem schaurigen Provinznest auf Korsika auf. Er konnte nur etwas lernen, weil der König gerade ein Stipendium für verarmte Adlige ausgeschrieben hatte. Er war der Welteroberer aus der Gosse.

Keiner traut dem Braten

Während ich Judith das so aus dem Stegreif runtererzähle und noch der Frauenquote halber Marilyn Monroe hinzufüge, die als Norma Jeane geboren ihre Kindheit in neun Familien und diversen Waisenhäusern verbrachte, packt meine Frau die Picknicktasche mit Kühlelementen, geschmierten Brötchen und was zu trinken, bugsiert eine zweite Tasche mit Wechselsachen fürs Töchterchen ins Auto, hievt die Hündin in den Kofferraum und denkt auch noch an meinen Strohhut. 

Ich muss sie nur noch an die Sonnencreme erinnern, und wir können auch schon zu unserem Maiausflug starten, der uns auf ein Kanu und einen Fluss durch die niederrheinische Ebene führen soll. 

Es ist einer dieser herrlichen Frühsommertage, wo keiner dem Braten traut und alle noch zu warm angezogen sind, weswegen ich mir irgendwann die Kleider vom Leib reiße, mit starken nackten Armen entschlossen nach dem Paddel greife und dabei ein kerniges Seemannslied von Stürmen und brausenden Wogen singe. „Was sind brausende Wogen?“, fragt das Töchterchen und zetert im Übrigen weiter über ihre zu groß geratene Schwimmweste.

Wenn unser Töchterchen einmal groß wird

Wenn Sie einmal erwachsen ist, wird sie sagen können, ihre Mutter sei eine Packerin gewesen und ihr Vater ein Flusspirat und sie habe sich sozusagen am eigenen Schopf aus der Gosse gezogen. Zumindest wenn sie Starköchin, Immobilienkönigin, Filmstar oder in der SPD ist, dürfte das ihre Karriere unbedingt nach vorne bringen. 

Wenn sie aber zum Beispiel Verwaltungsfachangestellte, Richterin, Malerin oder Poetin wird, oder wenn sie einfach ihr Leben lebt und etwas ist, ohne etwas zu werden, dann könnte sie sagen, meine Eltern waren vielleicht verrückt und Mama hat manchmal beinahe die Sonnencreme vergessen. 

Meine Kindheit, so könnte sie sagen, war aber eine brausende Woge, und es war schon ein bisschen besser, dass ich eine Schwimmweste anhatte. Ob aus der Gosse oder von Hofe stammend, sei daneben wirklich zweitrangig.

 

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