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Kolumne „Ein bisschen besser“

Lebst du noch, oder kuratierst du schon dein Dasein?

Die Welt stapelt hoch, sage ich zu Judith, als wir jetzt bei einer Küchenparty standen, während das Chili con Carne im Kochtopf simmerte. Daneben lagerten Tüten aus braunem Papier mit Stoff zum Nachwürzen: nicht einfach Salz, sondern „Meersalzblüte“, nicht Pfeffer, sondern „schwarzer Kampotpfeffer“, nicht Zucker, sondern „wilder Palmblütenzucker“.

Ich krümelte Judith eine Prise zu viel Meersalzblüte über den Teller, und sie stellte fest, dass versalzen eben versalzen ist, Meerblüte hin oder her. Sie ist da sehr empfindlich.

Singapur und Harvard gegen Marburg und Bonn

Der Abend entwickelte sich dennoch gut. Jemand erzählte von seinen Söhnen, die in Singapur und Harvard ihre berufliche Zukunft formten und einer von beiden, ich habe jetzt vergessen, ob der in Singapur oder Harvard, nebenbei in einer internationalen Anwaltskanzlei wertvolle Erfahrungen sammele, weil ihn das Studium an sich nicht auslaste. Judith und ich löffelten unser Chili, und ich sagte nicht, dass meine Ältesten in Marburg und Bonn studieren und die Tochter nebenbei in der Eisdiele arbeitet, weil das Geld sonst nicht reicht. Ich rede schließlich nicht mit vollem Mund.

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Wir sprachen anschließend viel über Jobs. Ich berichtete von unserem verfallenen Palazzo in Oberitalien, wo wir einen Facility-Manager suchen, wenn wir mal nicht da sind und wo wir aktuell in der Umbauphase einen Head of Plumbing System-Management beschäftigen müssten. Bei früheren Küchenpartys hätte ich Gas-Wasser-Scheiße gesagt, aber mir schien es in dieser Schwarzer-Kampotpfeffer-Umgebung ein bisschen besser, darauf zu verzichten.

„Wir polieren das Profane, bis es aussieht wie Bedeutung“

Auf dem Heimweg brach es dann aus mir hervor: „Die Welt ist ein großer Maskenball“, sagte ich zu Judith. „Die Menschheit postet ihren Hauptspeisenteller wie Renaissance-Gemälde. Sie nennt das Hamsterrad ‘Selbstverwirklichung’ und verkauft ihre Müdigkeit als cosy moments. Keiner lebt einfach so, sondern alle kuratieren ihr Dasein.“

Ich steigerte mich noch und fügte hinzu: „Authentizität ist der neue Lack, der über die alte Selbstverliebtheit gesprüht wird. Der angesagteste Filter heißt Tiefsinnigkeit.“ Erschöpft endete ich mit: „Wir polieren das Profane, bis es aussieht wie Bedeutung, und von der eigenen Demut ist niemand außer uns selbst ergriffen.“

Meine Frau schweigt. Zu Hause packen wir jeder eine Tasche für den Wochenendausflug. Judith schmiert Stullen für alle. Das Töchterchen möchte noch „Guten Abend, gute Nacht“ hören vor dem Einschlafen. Die Hündin pinkelt in den dunklen Hof. Eine letzte Zigarette verglimmt in der feuchten Luft auf dem Balkon. Judith löscht das Licht, und ich glaube, ich hatte einen wilden Traum von Palmblütenzucker.

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