Wie es war, mit Menschen zusammenzusitzen, die anderer Meinung waren

Ein Bademantel besteht aus genau zwei Teilen. Mir ist das letzte Nacht aufgefallen, als die Hündin dringend in den Hof musste, ich das eine ohne das andere Teil übergestreift hatte und dann da so stand und große Sorge hatte, dass die Tür ins Schloss fallen würde.
Während ich wartete, malte ich mir aus, wie die Lichter im Hof aufflammen würden, die Menschen aus ihren Fenstern starrten auf den Mann, der sich mit beiden Händen den Mantel oben und unten zuhält. „Mama, dem Mann geht es nicht gut“, würde ich vielleicht eine Kinderstimme flüstern hören. Ja, so wie zum Bademantel der Gürtel gehört, gehört zur Biene Maja der Willi, zum Yin das Yang, zur Judith, meiner Frau, gehöre ich und zur Rede die Gegenrede.
Menschen, die unterschiedliche Parteien wählten?
„Kannst du dich noch daran erinnern“, fragt Judith, „wie es war, mit Menschen zusammenzusitzen, die unterschiedlicher Meinung waren?“ Ich grübele. „Du meinst wirklich Menschen, die unterschiedliche Parteien wählten, vielleicht sogar eine ganz andere Sicht auf die Welt hatten?“ „Ja“, sagt sie und malt schöne Gedankenbilder von ausgedehnten Augenblicken, kreisenden Flaschen griechischen Weins und ansteckendem Lachen.
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Es waren die Zeiten, als mein Lieblingsdenker, der Hegel mit der ganzen Wucht seiner Vornamen Georg und Friedrich und Wilhelm, noch etwas zu sagen hatte. Dialektik, so lehrte er, sei die Kunst der Gesprächsführung, in der sich das Denken und Geschehen von Gegensätzen bestimmt zeigt. Auweia.
Philosophen-Disput zwischen Mitternacht und ein Uhr
Hegel war Hauslehrer der Sprösslinge eines Weinhändlers in Frankfurt und später Nachfolger von Johann Gottlieb Fichte an der Universität in Berlin. Die beiden Philosophen liegen noch heute nebeneinander in einem Ehrengrab, und ich stelle mir vor, dass nächtliche Besucher sie zwischen Mitternacht und ein Uhr heiß diskutieren hören.
Das aktuelle Thema ihrer Debatte könnte gerade sein, dass sich ihre alte Alma Mater und 60 weitere in Deutschland von der Medienplattform „X“ verabschiedet haben, weil dort viel zu lesen ist, was ihrer Ansicht widerspricht. Hegel würde Fichte seinen Lieblingssatz zuflüstern: „Am schädlichsten ist es, sich vor Irrtümern bewahren zu wollen.“
„Liebling“, flüstert Judith, als die Hündin und ich wieder reinkommen, „es wäre ein bisschen besser gewesen, du hättest den Gürtel mitgenommen.“ Ich nicke, ziehe die Decke bis an die Nasenspitze und muss versprechen, nie wieder so einteilig unterwegs zu sein.
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Kommentare
"Die Furcht vor dem Irrtum ist schon der Irrtum selbst" (Hegels schönster Satz).