Parolen statt Fragen

Es ist Frühling in Zürich und Basel. Während andere Familien am 1. Mai den Park, den Zoo oder das Seeufer ansteuern, entscheiden sich manche Eltern für einen anderen Ausflug: Sie schleppen ihre Kinder auf eine Demonstration zum „Tag der Arbeit“. Nicht zum Zuschauen, nein – zum Mitmachen.
Zwischen Parolen, Transparenten, Tomatenwürfen und einem ordentlichen Polizeiaufgebot sitzen dann die Kleinen mit Ohrenschützern auf den Schultern ihrer Eltern. Manche schwenken sogar Mini-Plakate, deren Inhalt sie nicht einmal verstehen. Kinderarbeit in moderner Form. Aber wenn es eskaliert – das versichern die Mütter und Väter –, sei man natürlich sofort weg.
Wie tröstlich.
Offiziell, so hört man, gehe es um Werte. Solidarität, Arbeitsrechte, gesellschaftliches Bewusstsein. Klingt gut. Aber Hand aufs Herz: Geht es wirklich darum? Oder erleben wir hier nicht vielmehr die Frühform eines Problems, das die Schweiz längst auch im Klassenzimmer hat – die Politisierung und ideologische Bevormundung von Kindern?
Positionieren statt informieren
Natürlich sollen Kinder lernen, wie die Gesellschaft funktioniert. Natürlich sollen sie über Politik, Geschichte und Ethik sprechen. Aber das mit dem Ziel, sie zu befähigen, selbst zu denken. Nicht, um sie frühzeitig auf eine ideologische Spur zu setzen. Wer sein Kind auf eine Demo mitnimmt, will es nicht informieren, sondern positionieren. Er will nicht die Meinungsbildung fördern, sondern das Meinungsresultat vorgeben.
Man stelle sich den umgekehrten Fall vor. Ein Vater nimmt seinen Sohn mit auf den „Marsch fürs Läbe“ gegen Abtreibung. Was wäre der Aufschrei in den Medien? Die Rede wäre von Indoktrinierung, Manipulation, Kindeswohlgefährdung. Aber wenn es um linke Anliegen geht – Arbeitskämpfe, Palästina, Klima –, dann heißt es plötzlich: Wertevermittlung. Diese Doppelmoral ist so offensichtlich wie skandalös.
Wir erleben in Schulen und Universitäten bereits heute einen Vormarsch der politischen Beeinflussung. Lehrmittel, die bestimmte Narrative bevorzugen. Projekte, die die „richtige“ Haltung trainieren. Lehrerinnen und Lehrer, die aus pädagogischen Fachpersonen Aktivisten machen.
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Die eigene Meinung als „Erbe“
Jetzt wird diese Entwicklung auf den Familienspaziergang am 1. Mai ausgeweitet. Was früher als Kindheit galt – Raum zur freien Entwicklung, zur unvoreingenommenen Begegnung mit der Welt –, wird ersetzt durch vorgekaute Haltungen. Die kleinen Köpfe sollen möglichst früh gefüllt werden. Mit Parolen statt mit Fragen. Weil Meinungen nicht durch Nachdenken entstehen sollen, sondern in einer Art Erbfolge.
Natürlich behaupten die Eltern das Gegenteil. Die Kinder „verstehen ja noch nicht alles“, heißt es beschwichtigend. Es gehe ja nur darum, ein „Gespür“ zu vermitteln. Doch genau hier liegt das Problem: Wer einem Kind ein „Gespür“ mitgeben will, bevor es die Zusammenhänge versteht, legt fest, wofür es sensibel sein soll – und wofür nicht. Noch bevor das kindliche Urteilsvermögen ausgebildet ist, wird ein Urteil eingetrichtert.
Die einen Eltern wünschen sich, dass ihr Nachwuchs für Solidarität mit Arbeitern sensibilisiert wird. Andere Eltern würden sich vielleicht wünschen, dass ihre Kinder ein Gespür für Eigenverantwortung entwickeln. Oder für das Recht auf Eigentum. Oder für die Komplexität geopolitischer Konflikte. Doch diese Vielfalt an Perspektiven wird gar nicht erst angestrebt. Die Kinder sollen „progressiv“ denken. Punkt.
Das eigene Weltbild einimpfen
Eltern dürfen – ja, sie sollen – mit ihren Kindern über Politik sprechen. Aber sie sollten es tun wie gute Lehrer: erklärend, fragend, anregend. Und nicht wie Parteisoldaten: agitierend. Die kindliche Neugier soll nicht mit Meinung erstickt werden. Sie soll wachsen. Wenn ein Kind alt genug ist, um sich eigene Gedanken zu machen, wird es von selbst entscheiden, ob es an einer Demo teilnimmt. Und dann – erst dann – hat das auch Gewicht.
Die Instrumentalisierung von Kindern für politische Zwecke ist kein Fortschritt. Sie ist eine Bankrotterklärung der Erziehung. Sie zeigt, dass manche Eltern ihren eigenen Überzeugungen offenbar so wenig trauen, dass sie glauben, sie schon den Kleinsten einimpfen zu müssen.
Es gibt viele Orte, an denen Kinder wirklich etwas lernen: in der Schule, im Gespräch zu Hause, beim Spielen mit Freunden. Die Demonstration gehört nicht dazu.
Lasst die Kinder Kinder sein. Und verschont sie mit euren Weltrettungsplänen.
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Kommentare
Ich stimme voll und ganz zu! Dasselbe gilt allerdings auch für den Marsch fürs Leben. Auch hier nehmen viele ihre Kleinkinder mit, was ich aus genannten Gründen seitens des Autors als unpassend empfinde! Lasst die Kinder Kinder sein und schleppt sie nicht mit auf Erwachsenen-Veranstaltungen.
@Anonymous Der „Marsch für das Leben“ ist keine Gehirnwäsche, sondern ein Fest für das Leben. Und da gehören auch Kinder hin. 👍
Das trifft dann aber auch auf den Marsch des Lebens und ähnliche Veranstaltungen zu.
Kindesmissbrauch kann viele Gesichter haben.