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Demokratiebekundungen und Talkrunden sind zu wenig

Das Ende des Volkes

Es gab Zeiten, da war das Quotendenken ein CDU-Ding. In den 1950er Jahren fühlten sich CDU-Protestanten gegenüber der von Katholiken dominierten CDU benachteiligt. Also wurde ein Proporz eingeführt, sodass mehr Protestanten wichtige Parteiämter besetzten. Wenn etwa der Kanzler katholisch war, musste der Innenminister evangelisch sein.

Auch Helmut Kohl holte „sein Mädchen“ Angela Merkel in sein Kabinett, da sie neben ihrem Frausein auch ihr Ostdeutschsein mitbrachte. So weit, so harmlos, denn mit der Opfermentalität, die angeblich oder tatsächlich marginalisierte Identitätsgruppen in unserer Epoche an den Tag legen, hatten diese Entscheidungen wenig zu tun.

Landwirte und Christen als die neuen Aktivisten

Die Identitätspolitik ist maßgeblich daran schuld, dass das deutsche Haus bröckelt. Denn es sind nicht mehr nur einige wenige Wir-Gemeinschaften, die sich von der Teilhabe am guten Kuchen ausgeschlossen fühlen. Waren es in den 1990er Jahren vor allem Frauen, Homosexuelle und Schwarze, die um mehr Anerkennung und Subventionen kämpften, kamen in den 2010ern LGBTQIA, Behinderte und diverse ethnische Gruppen dazu. Immer ist es dasselbe Narrativ: Angeblich Marginalisierten stehe eine homogene, einheitliche und starke Mehrheit an Durchschnittsbürgern gegenüber.

Doch was das Land jetzt erlebt, ist eine Umwertung aller identitätspolitischen Werte: Nicht linksgeprägte, städtische, studentische Aktivisten, sondern alte weiße Männer vom Land sind es, die für ihre Interessen auf die Straße gehen. Aktivistische Aufrüstung kommt noch aus einer anderen unerwarteten, medial kaum beachteten Ecke: Christen fangen an, sich auf die Beine zu stellen. Vor einigen Jahren etablierte sich in Österreich die Plattform Christdemokratie, die christliche Anliegen in die Politik hineintragen möchte. Aktuell fordern sie die Einrichtung einer Meldestelle für Christenfeindlichkeit von der Regierung, wie es sie bereits für Islamfeindlichkeit gibt.

Protest als einziges Mittel der Aufmerksamkeit

Aktivismus von konservativer Seite ist ein neues Phänomen, kommt dieser doch traditionell aus dem linken Lager. Angefangen bei der Französischen Revolution, über kommunistische Umstürze bis hin zu den Studentenprotesten der 68er: Sie alle eint, dass sich wirkliche oder angeblich Entrechtete gegen das konservative, adelige und kirchlich geprägte Establishment richteten.

Gruppierungen, die in der Mitte der Gesellschaft verortbar sind, haben eines gelernt in den vergangenen Jahrzehnten: Will man von der Regierung wahrgenommen werden, bleibt nichts anderes als Protest. Dazu kommt, dass in westlichen Demokratien – auch wenn es nicht so sein sollte – mittlerweile nicht die jeweils regierenden Parteien die Macht haben, sondern jene Gemeinschaften, die den vorpolitischen Raum beherrschen. In seinem Essay schreibt der Historiker Andreas Rödder, Leiter der Denkfabrik R21, über das „Ende der grünen Hegemonie“:

„Sie (die kulturelle Hegemonie, Anm.) geht politischer Macht voraus. Wer die öffentliche Deutungshoheit besitzt und die eigenen Vorstellungen als allgemein erstrebenswert etablieren kann, braucht keine Mehrheiten und muss nicht einmal formell regieren, um Macht im Staate auszuüben.“

Die Macht kultureller Hegemonie wurde von Marxist Antonio Gramsci schon vor fast hundert Jahren formuliert. Spätestens die Bauernproteste zeigen, dass die Mitte zu dieser Wahrheit aus ihrem naiven Dornröschenschlaf erwacht ist.

Wer ist heute eigentlich „das Volk“?

„Alle Macht dem Volk“, lautete ein gängiger Slogan vieler Revolutionäre, die die Mehrheit auf ihrer Seite wähnten. Doch, so fragt man sich heute, was ist denn eigentlich „das Volk“? Sind es die Landwirte, Logistiker, LKW-Fahrer, Fischer und Handwerker, die sich an den massenhaften Bauernprotesten beteiligen? Sind es die Aktivisten der „Letzten Generation“ oder die zehntausenden Teilnehmer der Demonstration „gegen Rechts“ in deutschen Städten?

„Das Volk“ oder, neudeutsch ausgedrückt, die Mehrheitsgesellschaft, gibt es nicht mehr. Was einmal „das Volk“ war, ist – nicht nur ethnisch – zersplittert: in Wir-Gemeinschaften mit eigenen Weltanschauungen, eigenen Codes, eigener Sprache, eigenen Medien und eigener Blase.

Diese Art von gesellschaftlichem Kampf hat mit dem des 19. und 20. Jahrhunderts, als Arbeiter und Bauern Industriellen und Bürgertum gegenüberstanden, nichts gemein. Warum? Weil es zwischen den vielzähligen Gruppierungen heute keinen Grundkonsens mehr gibt, der aber fundamental für eine funktionierende Gesellschaft ist.

Gendern führte zu Spaltung

Einer dieser grundlegenden Scharniere, der Menschen miteinander verbindet, ist die gemeinsame Sprache. Mit der Verbreitung der gendersensiblen Sprache seit den späten 1980er Jahren gibt es auf diesem Gebiet eine gesellschaftliche Spaltung. Der „Rat für deutsche Rechtschreibung“, der als die maßgebende Instanz für die deutsche Rechtschreibung gilt, spricht sich zwar gegen die Verwendung von Genderstern, Unterstrich und Doppelpunkt aus, doch das ist vielen Institutionen und Einzelpersonen herzlich egal.

Universitäten, Schulen, subventionierte NGOs gendern trotzdem fröhlich weiter, denn schließlich steckt hinter dem Gendern eine weltanschauliche Agenda, deren Repräsentation sich die erwähnten Institutionen nicht nehmen lassen wollen.

Die Weltanschauung ist ausschlaggebend dafür, wie man Menschen aus dem Ausland bezeichnet, die sich in Deutschland niederlassen wollen. Unterschiedslos framen linksliberale Medien sie gern als „Fachkräfte“, „Geflüchtete“ oder „Schutzbedürftige“, rechtsradikale Publikationen hingegen abwertend gemeint als „Asylanten“ oder gar als „Invasoren“.

Anzuerkennen, dass es gleichzeitig wirklich Schutzbedürftige gibt, Migranten, die von Pull-Faktoren angezogen werden, jene, die mit tatsächlich bösen Absichten einreisen, sowie solche, die sich in Deutschland durch Arbeit und Assimilierung ein neues Leben aufbauen wollen, würde bedeuten, die liebgewonnenen ideologischen Seiten verlassen zu müssen.

Bürgerlich-Konservative sind zur Verantwortung zu ziehen

Auch eine gesamtgesellschaftliche Übereinstimmung in der Bedeutung von Begriffen gehört der Vergangenheit an. Aller Klassenunterschiede zum Trotz hat sich wohl jeder Proletarier mit jedem Bourgeoisen in den vergangenen Jahrhunderten darauf einigen können, was eine Frau ist. Weil in unseren Breitengraden kein Konsens mehr darüber besteht, dass eine Frau eine Person mit Vagina ist, sprechen viele Medien mittlerweile von „biologischen Frauen“, wenn sie andere gesellschaftlich akzeptierte Formen von Frausein, zum Beispiel Trans-Frauen, ausschließen wollen.

Dasselbe Phänomen trifft den Begriff „Familie“. Längst ist es nicht mehr selbstverständlich und konsensfähig, dass mit „Familie“ Vater, Mutter und gemeinsame Kinder gemeint sind. Ein Teil der Bürger versteht darunter die von Biologie, Abstammung sowie Religion losgelöste „Verantwortungsgemeinschaft“.

Auch auf der rechten Seite hat sich als Folge der Zerklüftung eine ungute Sitte etabliert. Wann immer linke, liberale oder öffentlich-rechtliche Medien über bestimmte Themen berichten, setzt der „Lügenpresse“-Reflex ein. Was diese Medien berichten, sei grundsätzlich falsch, weil es diese Medien berichten. So jüngst geschehen anlässlich der Massendemonstrationen „gegen Rechts“ in Hamburg.

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Schuld an dieser breiten Zersplitterung der Bürger tragen vor allem die Linken, die es mit ihrem jahrzehntelangen Kulturkampf und Marsch durch die Institutionen geschafft haben, alles Private zu politisieren.

Schuld tragen aber auch die Bürgerlich-Konservativen, die dem linken Treiben über lange Strecken hinweg tatenlos zusahen, ohne ihm etwas entgegenzusetzen, sei es aus Bequemlichkeit, Naivität oder Sprachlosigkeit. Dazu kommt der sich über weite Teile der Gesellschaft ziehende uferlose Individualismus und Relativismus.

Nietzsches brillante Konklusion

Was, fragt man sich, kann die Risse wieder füllen, was eine gemeinsame Basis wieder herstellen? Oder wird die Zersplitterung auf die Spitze getrieben, indem es, wie im Deutschland nach der Reformation, zu einer Aufteilung à la „cuius regio – eius religio“ kommt?

Geht man diesem föderalistischen Gedankenexperiment nach, könnte man sich Bundesländer vorstellen, die von einer stramm linken Koalition regiert werden und solche, wo Rechtsradikale das Sagen haben. Solche, wo Gendern strikt verboten ist und solche, wo wiederum die Benutzung des generische Maskulinums streng untersagt ist. Bundesländer, die eine strikte Migrationspolitik verfolgen und welche, die nach dem Motto „Refugees welcome“ handeln. Doch wollen wir das?

Vielleicht kann Nietzsche weiterhelfen. In der „Genealogie der Moral“ sucht er nach einem Gegenideal zum christlichen „asketischen Ideal“. Seine Konklusion: Weder Wissenschaft noch Atheismus können als Pendants herhalten, denn allen dreien unterliegt dasselbe Fundament: der „Wille zur Wahrheit“. In dem zu Ende des 19. Jahrhunderts entstandenen Werk prognostiziert der Denker dem Christentum einen Niedergang. Was Nietzsche erahnt hatte, ist nun tatsächlich eingetroffen: Nicht einmal die Wissenschaft ist ein Leitstern mehr, denn, wie Nietzsche korrekt beschrieben hatte, wurde der Wille zur Wahrheit hinter sich gelassen.

Um gesellschaftlichen Konsens wieder herzustellen, werden keine netten Talkrunden, Demokratiebekundungen und die ewige Leier des „Man muss sich gegenseitig wieder mehr zuhören“ reichen. Zuhören allein führt nämlich zu nichts, wenn die Diskutierenden trotzig bei ihren Ansichten bleiben und nicht bereit sind, falsche Annahmen zu korrigieren.

Es ist viel radikaler: Nur wenn wir Realismus, Wirklichkeit und letztendlich auch Wahrheit aufrichten, kann es wieder eine Mehrheitsgesellschaft, ein Volk, geben. Der erste Schritt dazu ist, dass sich ein jeder mit einem demütigen und offenen Herzen an eine ehrliche sowie kritische Wahrheitssuche macht, indem er sich der Wirklichkeit annähert.

 

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Michael
Vor 2 Monate 4 Wochen

Sehr gut, liebe Frau Sutter.

Ihr letzter Absatz als Resumee trifft es genau und ist leider dennoch nutzlos. Der heutige Mensch macht sich seine Realität selbst. Eigentlich eine Nichtrealität, weil sie eben nicht der Wahrheit entspricht. Er definiert seinen eigenen Lebenssinn, seinen Gender, erzeugt Klonwesen, isst veganes Fleisch usw. er lebt virtuell, weil dort der Errichtung seiner "Realität" keine Widerstände oder Grenzen entgegenstehen.

Jemand der z.B. permanent seine Kaffeetasse auch nach dem Zerbrechen als intakt definiert, wird eine andere Wahrheit erst zur Kenntnis nehmen (was noch nicht bejahen, Demut und offenes Herz bedeutet), wenn ihm der heiße Kaffee beim Einfüllen in die Scherben durch die Kleidung sickert und ggf. Verbrennungen der Haut auslöst.

Und die Machthaber wollen ja auch keine Völker, da die Atomisierung der Menschheit die Organisationsunfähigkeit zum Widerstand bedeutet. Dies und noch mehr hat Kard. Müller im Dezember sehr gut dargelegt https://www.lifesitenews.com/de/news/exklusiv-cdl-muller-massenmigratio…

Dieses Gespräch wäre auch eines Artikels hier wert gewesen.

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Michael
Vor 2 Monate 4 Wochen

Sehr gut, liebe Frau Sutter.

Ihr letzter Absatz als Resumee trifft es genau und ist leider dennoch nutzlos. Der heutige Mensch macht sich seine Realität selbst. Eigentlich eine Nichtrealität, weil sie eben nicht der Wahrheit entspricht. Er definiert seinen eigenen Lebenssinn, seinen Gender, erzeugt Klonwesen, isst veganes Fleisch usw. er lebt virtuell, weil dort der Errichtung seiner "Realität" keine Widerstände oder Grenzen entgegenstehen.

Jemand der z.B. permanent seine Kaffeetasse auch nach dem Zerbrechen als intakt definiert, wird eine andere Wahrheit erst zur Kenntnis nehmen (was noch nicht bejahen, Demut und offenes Herz bedeutet), wenn ihm der heiße Kaffee beim Einfüllen in die Scherben durch die Kleidung sickert und ggf. Verbrennungen der Haut auslöst.

Und die Machthaber wollen ja auch keine Völker, da die Atomisierung der Menschheit die Organisationsunfähigkeit zum Widerstand bedeutet. Dies und noch mehr hat Kard. Müller im Dezember sehr gut dargelegt https://www.lifesitenews.com/de/news/exklusiv-cdl-muller-massenmigratio…

Dieses Gespräch wäre auch eines Artikels hier wert gewesen.