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Über die Grundlagen Europas

Der Logik der Postmoderne eine Alternative entgegensetzen

Die postmoderne Weiterentwicklung von „Cogito ergo sum“ (Ich denke, also bin ich) scheint zu sein: „Ich fühle, also bin ich“. Das Gefühl leitet heute ebenso eine neue Erkenntnistheorie ein, wie der berühmte Ausspruch des französischen Philosophen René Descartes. Der Universalienstreit im Mittelalter hat dazu geführt, dass man Erkenntnis nicht mehr aus Ideen, logischer Objektivität und Abstraktion gewinnen kann, sondern nur aus der Erfahrung von sinnlich wahrnehmbaren Dingen. Heute haben nicht nur konkrete Einzeldinge und Individuen an Bedeutung gewonnen, sondern auch Gefühle. Ein neues Zeitalter ist angebrochen, in dem das Gefühl zur Erkenntnisquelle wird.

Die klassische abendländische Ethik ist die aristotelisch-scholastische Tugendethik. Sie geht von einer Natur des Menschen aus, gemäß derer man leben müsse („secundum naturam“), um das Ziel des Menschen zu erreichen: die εὐδαιμονία, Glückseligkeit. Die Tugendethik setzt klare, inhaltlich bestimmte Vorgaben voraus. Nach der scholastischen Vorstellung ist das letzte Ziel die Anschauung Gottes, welche den Gerechten zuteilwird.

Genau diese inhaltlichen Vorgaben geraten in der Neuzeit vor allem durch die Folgen des Nominalismus und den Beginn der Aufklärung zunehmend in die Kritik. Auf Descartes Erkenntnislehre folgte später Kants „autonome Moral“. Sie will sich aller inhaltlicher Vorgaben entledigen und nur die allgemeine Einsichtigkeit der Vernunft gelten lassen. Traditionen, Offenbarungen und religiöse Gebote spielen keine Rolle mehr. Auch Ziele sind sekundär. Es geht nur darum, dass die Maxime einer Handlung zum allgemeinen Gesetz erhoben werden könne.

Gefühle ermöglichen das Martyrium fürs Ich

Die kantische Ethik ist ein klarer Traditionsbruch und bleibt im luftleeren Raum, im autistischen Vakuum, auf der reinen Ebene einer kalten „Pflicht“, die jede „Neigung“ zum negativen „Laster“ stilisiert. Damit öffnet sie den Raum für das Gefühl und das Schwärmerische, weil sie die Natur des Menschen derart „rationalistisch“ entstellt, dass sie gleichsam eine Gegenreaktion provoziert.

Der Trend gibt dem Recht. Immanuel Kants Ethik ist tot. Heute stehen Bedürfnisse, Emotionen und Sensibilitäten im Zentrum. Es zählen non-kognitive Ansätze, die sich auf das Gefühl berufen. Das fühlende Ich wird zur Quelle und zum Ziel aller menschlichen Bestrebungen. Gefühle haben den Vorteil, dass sie motivieren können – selbst dann, wenn man „metaphysisch obdachlos“ ist.

Gefühle ermöglichen das Martyrium fürs Ich. In gewisser Hinsicht entspricht das dem, was der kanadische Philosoph Charles Taylor in seinem Buch „A Secular Age“ das „Age of Authenticity“ nennt. In diesem Zeitalter geht es um die Entdeckung und den Ausdruck des eigenen wahren Selbst. Institutionen wird misstraut. Stattdessen beginnt die Reise zur Selbstfindung.

Was diese „Authenticity“ oder „Eigentlichkeit“ ausmacht, ist letztlich eine Losschälung von allem Äußerlichen und eine Hinwendung zum Inneren. Alles, was nicht „aus einem selbst“ kommt, wird als heteronom, fremdbestimmt, bewertet. Es zählen keine objektiven vorgegeben Größen, keine tradierten, religiösen oder sozialen Werte. Es geht auch nicht um biologische oder kulturelle Elemente, sondern um das, was aus den wahrgenommenen „Gefühlen des Selbst“ als tiefste Identität hervorsteigt. Das kann grundsätzlich alles sein. Kritik daran wird deshalb so hart und mit „Phobie“-Vorwürfen aller Couleur betitelt, weil diese als Eingriffe in die Individualität und damit in das Selbst und die Menschenwürde des anderen gelten, die man nicht antasten dürfe.

Vorschau Eltern und Kinder singen gemeinsam: Die ersten kulturellen Erlebnisse finden in der Familie statt
In der europäischen Kultur gibt es für die wahre Ordnung konkrete Beispiele wie die Gründung einer Familie mit vielen Kindern

Der Aufbau einer Identität auf der Grundlage von Gefühlen erklärt Phänomene wie Gender, Transsexualität, alle möglichen Selbstverwirklichungsprojekte und emotionale Lebensumbrüche. Gerne werden diese Phänomene kritisiert und abgelehnt. Sie sind aber ein inhärenter Bestandteil der heutigen Welt, sie sind Teil der Postmoderne und als solche müssen sie verstanden und behandelt werden.

Diese Phänomene müssen auch deshalb ernstgenommen werden, weil sie einer inneren Vernunft folgen. Die Frage, vor der wir postmodernen Menschen stehen, lautet: Was ist heute normativ für uns? Woran glauben wir? Die Moderne mit ihren neuen Verheißungen hat ihre Überzeugung verloren. Unsere Postmoderne ist, wie der Philosoph Jean-François Lyotard schreibt, das Ende der großen Erzählungen, die von dem großen Entwurf der Moderne handelten. Erzählungen von der Aufklärung und die daran anschließenden Bewegungen stoßen heute auf Skepsis. Es gibt keine Hoffnungsgeschichte mehr. Nichts wird mehr geglaubt. Was auf der personalen Ebene zur Auflösung des Menschen als Subjekt führt.

Die Grundlagen der Genderideologie

Der Traditionsbruch liegt hinter uns und deshalb sind wir, in gewisser Hinsicht, in Anlehnung an Friedrich Nietzsche, Neue, Namenlose, Schlechtverständliche, Frühgeburten einer noch unbewiesenen Zukunft. Es bleibt uns nichts als das die Darstellung des Gefühls, die mit Instagramfiltern ihr Gesicht verhüllt und unter Tränen vom Beziehungsaus berichtet. Es gibt keine objektiven Maßstäbe mehr, die uns Orientierung geben. Wenn man auf sich selbst zurückgeworfen ist und keine objektiven Maßstäbe der Erlösung kennt, ist es nachvollziehbar, dass einige die Lösung ihrer Probleme darin sehen, sich der LGBTQIA+-Religion hinzuwenden, um durch bestimmte sexuelle Praktiken oder Geschlechtsumwandlungen ihr Glück zu finden.

Die Philosophien unserer Zeit schaffen die Grundlage der Genderideologie. Nur einige Beispiele: Der Philosoph Martin Heidegger stellte das Diktum auf, wir seien ins „Dasein geworfen“. Der Mikrobiologe und Nobelpreisträger Jacques Monod behauptete, dass der moderne Mensch nach der Erkenntnis der modernen Naturwissenschaften nur ein „Zigeuner am Rande des Universums“ sei, total verlassen und radikal fremd.

Der Philosoph Jean-Paul Sartres sah den Mensch „zur Freiheit verdammt“. Und der populäre Biologe Richard Dawkins krönt das alles mit einem Credo der Verzweiflung:

„In einem Universum aus Elektronen und egoistischen Genen, blinden physikalischen Kräften und genetischer Replikation werden einige Menschen verletzt, andere werden Glück haben, und man wird darin weder einen Sinn noch eine Vernunft noch eine Gerechtigkeit finden. Das Universum, das wir beobachten, hat genau die Eigenschaften, die wir erwarten sollten, wenn es im Grunde keine Absicht, keinen Zweck, kein Böses, nichts Gutes, nichts als erbarmungslose Gleichgültigkeit gäbe.“

Das sind die wissenschaftlichen Glaubensbekenntnisse unserer Zeit, die uns als Menschen im Innersten zerstören. Dadurch werden wir auf Gefühle und Sexualität zurückgeworfen, die gleichsam als affektive Stimulanz gegen den rationalen Nihilismus wirken.

Gegen den Menschen als reduziertes Minimalprogramm

Es liegt hier ein Reduktionsmus vor, den der amerikanische Philosoph Allan Bloom gut zusammengefasst hat:

„Die Moderne hat eine Auffassung vom Menschen, in dem die Seele ausgegliedert wird. Sie gehört nicht länger zur Natur, sondern eher zu einer Art Mythos, zur Dichtung und gilt somit als unseriös und unwissenschaftlich. Sie ist im modernen Menschen nicht erkennbar. Dieselbe Auffassung, die zum Rechtspositivismus führt, zur Auffassung, dass es kein übergesetzliches Recht oder gesetzliches Unrecht geben könne, genau dieselbe Auffassung wirkt in der Wissenschaft weiter und macht aus dem Menschen eine Art Minimalprogramm.“

Dieses Minimalprogramm können wir infrage stellen. Wir können fragen, ob der Mensch nicht doch mehr als ein „schlauer Affe“ ist. Ob materialistische Theorien nicht zu kurz führen, ob die Vorstellung einer Seele nicht doch unabdingbar zur conditio humana gehört, mehr noch, zur menschlichen Natur, die man nicht beliebig manipulieren kann. Klassisch ausgedrückt: Ist der Mensch Geschöpf? Und wenn ja, wer ist der Schöpfer? Das Abendland ging inspiriert durch das Christentum davon aus, dass der Absolute, also Gott, die Liebe ist und dass diese Liebe nach den Grundsätzen der Vernunft handelt, dass sie sogar das Wort und die Vernunft selbst ist (griechisch: Logos).

Der antike Theologe Augustinus definiert Liebe als „Ich will, dass du bist“. Demnach ist der Mensch nach einem Ja, einem Sinn und einem Plan geschaffen. Er ist aus Liebe geschaffen mit einer Aufgabe und einem Ziel vertraut und genau deshalb ist sein Verhalten nicht gleichgültig und nicht dem Belieben anheimgestellt. Dann sind nicht mehr unsere Gefühle die höchste Wirklichkeit und Norm, sondern Vernunft und Liebe.

Die Erfüllung der eigentlichen Sehnsucht

Wenn man die Ordnung des Christentums ernst nimmt, führt das nicht zur befürchteten „Fremdbestimmung, sondern zur Erfüllung der eigentlichen Sehnsucht. Denn wenn der Mensch Geschöpf eines guten Schöpfers ist, dann wird er Mensch dann glücklich, wenn er sich seiner geschaffenen Natur entsprechend verhält.Gefühle werden nicht unwichtig, aber sie erhalten ihre richtige Stellung zurück. Sie folgen aus dem Glück, die Wahrheit gefunden zu haben. Sie motivieren dann, die wahre Ordnung zu verwirklichen.

In der europäischen Kultur gibt es für diese Ordnung konkrete Beispiele wie die Gründung einer Familie mit vielen Kindern oder sein Leben als Zeugnis für das Himmelreichs hinzugeben. In allen diesen Wegen offenbart sich eine lebenbejahende Qualität, die fruchtbar und liebend ist, die auch treffend mit dem Begriff „Kultur des Lebens beschrieben wird. Es kann kaum ein Zweifel daran bestehen, dass diese abendländische Alternative viel großartiger ist, als seine Identität auf dem Fundament des Nihilismus zu bauen.

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Kommentar
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S. Lindner
Vor 6 Monate 3 Wochen

Ich stimme vielem zu, aber nicht dem Schlenker hin zum Christentum. Kirche hat fertig. Restlos. Und ich freue mich darüber!

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Hans-Joachim Hahn
Vor 6 Monate 2 Wochen

Werte(r) S. Lindner,
Sie verwechseln Christentum und Kirche.
Luther hätte damals den gleichen Fehler machen können, aber er ging zurück zum Original der Schrift und wagte einen Neustart. Vor einer ähnlichen Herausforderung stehen wir heute.
Ich kann Ihnen dazu das Werk des Indischen Philosophen Vishal Mangalwadi empfehlen: "Das Buch der Mitte – wie wir wurden, was wir sind: Die Bibel als Seele der westlichen Zivilisation".
Als östlicher intellektueller liefert er eine wertvolle Außenperspektive auf unsere Kultur, die mir sehr geholfen hat, meine Wurzeln zu verstehen, zu schätzen und zu kultivieren.

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Stephan Raabe
Vor 2 Monate

Interessanter Beitrag. Es lohnt, den Zusammenhang von Bewusstseinsphilosophie und Subjektivismus zu bedenken. Karol Wojtyla hat einen modernen Brückenschlag in seinem christlichen Personalismus entworfen, indem er Seins- und Bewusstseinsphilosophie zusammenfasste. Darüber habe ich in der letzten Ausgabe von Die Neue Ordnung geschrieben. Dank und Gruß, Stephan Raabe

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Michael Breisky
Vor 6 Monate 3 Wochen

Nach Aristoteles ist Mut ohne Vorsicht Tollkühnheit, und Vorsicht ohne Mut ist Feigheit - jede Tugend braucht eine komplementäre Tugend. Daher ist die Schwäche der einen Tugend starkes Indiz für den Exzess ihres Komplementärs (so Leopold Kohr als Wiederentdecker des Menschlichen Maßes).
Komplementär zur Tugend der Vernunft (linear und "kalt") ist die Liebe (ganzheitlich - also auch "selbst-transzendent" - und "warm"). Der Mensch überlebt nur nur mit beidem.
Ja, "die Vernunft" ist noch immer im Exzess - der "Befindlichkeits-Ideologie" fehlt jedoch die Selbst-Transzendenz, um diesen Exzess auf Menschliches Maß zurückzuführen.
Erich Kästners Vernunft sagt: "Es gibt nichts Gutes, außer man tut es" - und Gott sagt: "besser noch, Du tust es!"

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S. Lindner
Vor 6 Monate 3 Wochen

Ich stimme vielem zu, aber nicht dem Schlenker hin zum Christentum. Kirche hat fertig. Restlos. Und ich freue mich darüber!

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Hans-Joachim Hahn
Vor 6 Monate 2 Wochen

Werte(r) S. Lindner,
Sie verwechseln Christentum und Kirche.
Luther hätte damals den gleichen Fehler machen können, aber er ging zurück zum Original der Schrift und wagte einen Neustart. Vor einer ähnlichen Herausforderung stehen wir heute.
Ich kann Ihnen dazu das Werk des Indischen Philosophen Vishal Mangalwadi empfehlen: "Das Buch der Mitte – wie wir wurden, was wir sind: Die Bibel als Seele der westlichen Zivilisation".
Als östlicher intellektueller liefert er eine wertvolle Außenperspektive auf unsere Kultur, die mir sehr geholfen hat, meine Wurzeln zu verstehen, zu schätzen und zu kultivieren.