Das Christentum ist keine Boomer-Religion

„Lassen Sie uns mal in Ruhe reden. Viele haben gar nicht gemerkt, wie sehr sich auch Fragen des Gottesbildes bei uns verändert haben, wie viel Spielraum da ist.“
Dieses auf den ersten Blick harmlose Zitat von Bischof Georg Bätzing im Stern-Interview auf die Aussage des Fotografen, er schätze, was die Kirche im sozialen Bereich tue, aber ihm sei ein Katholizismus fremd, der das Düstere und Strafende betone, in dem man sündig auf die Welt komme und Buße tun müsse, enthält bereits alle Überzeugungen, die man kennen muss, um Bätzing zu verstehen.
Rhetorisch geschickt stellt der Fotograf die klassische christliche Lehre von der Erbsünde, Erlösung und Umkehr – kurz das christliche Leben bestehend aus Taufe, Beichte und Wachstum in den Tugenden – als unbequem dar. Er sucht nach der Bestätigung dieser neuen Lehre durch den Bischof. Bequemlichkeit statt Beichtstuhl und Umkehr, dafür will er die Erlaubnis des Bischofs. Dass Bischof Bätzing ihm diese Erlaubnis gibt, ist der eigentliche Skandal des Interviews und die Grundlage aller Aussagen Bätzings, die Empörung auslösen.
Ablehnung der Botschaft Jesu Christi
Man muss nicht einmal Katholik sein, um in Bischof Bätzings Aussagen einen Skandal gegen den Glauben zu sehen. Denn das, was der Fotograf ablehnt, ist die genuin christliche Botschaft Jesu: „Kehrt um und glaubt an das Evangelium“ (Mk 1,15) und weiter: „Wer glaubt und sich taufen lässt, wird gerettet; wer aber nicht glaubt, wird verdammt werden.“ (Mk 16,16). Wo ist in diesen Aussagen der Spielraum?
Die größte Ironie dabei ist aber, dass die „Lossprechung“ Bätzings vom strafenden Gott auch den Fotografen nicht in die Kirche bringt. Denn dadurch wird sie nutzloser als je zuvor. Eine Kirche, die ihr Gottesbild beliebig ändert, ist eine nutzlose Institution, und es gibt keinen Grund, für so eine Kirche am Sonntagmorgen früh aufzustehen.
Im gleichen Interview meint Bischof Bätzing, er fände es schade, dass in diesem Jahr keine CSD-Regenbogenfahne auf dem Reichstag wehte. Er wünsche sich einen anderen Umgang mit Homosexualität in der Kirche, und Frauen sollten seiner Meinung nach Zugang zum Priestertum erhalten. Die Heilig-Rock-Wallfahrt würdigt er zu einem Brauchtum herab, bei dem es darum ginge, Toleranz zu üben: „Ich lasse den Menschen ihre Art, Glauben zu leben.“
Um die Aussagen einzuordnen und den Bischof zu verstehen, muss man fragen, woher er kommt, was ihn prägt und warum er glaubt, was er glaubt oder eben nicht glaubt. Die Aussagen Bätzings sollten von konservativen Katholiken nicht vorschnell mit Empörung gelesen, sondern im größeren Zusammenhang verstanden werden, um die richtigen Schlüsse zu ziehen.
Die große Identitätskrise der Katholischen Kirche
Die Biografie des Bischofs liest sich fast wie eine Anleitung, liberaler Christ zu werden: Aufgewachsen in der Volkskirche, Freude über die Erstkommunion, Messdiener, froher Katholik … Dann die Ernüchterung: Der Pfarrer hat Ministranten missbraucht, als Generalvikar erkennt Bätzing das System der Vertuschung. Die Konsequenz in seinen Augen: Reformen sind nötig. Eine andere Sexualmoral, die Abschaffung des Pflichtzölibats, ein neuer Umgang mit Homosexualität.
Es ist die typische Geschichte seiner Generation. Bätzing hat zweifellos eine sympathische Art. Geboren 1961, hat er das Zweite Vatikanische Konzil (1962–65) nicht bewusst erlebt, aber die Liturgiereform (1969/70) noch als Kind mitbekommen. Als Jugendlicher in den 1970er-Jahren sah er viele kirchliche und liturgische Experimente und trat 1980 ins Priesterseminar in Trier ein.
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Wer damals ins Seminar ging und sich wenige Jahre später zum Priester weihen ließ, erlebte die Identitätskrise der Kirche hautnah: das Zerbrechen des vertrauten Glaubens in der Theologie, das radikale Infragestellen fast aller Lehren. Wahrscheinlich wurde Bätzing, wie viele seiner Generation, von Karl Rahner geprägt, der den obersten Glaubenshüter Alfredo Ottaviani in einem Interview als Vertreter einer „altmodischen Theologie“ verspottete und den Glauben ganz neu interpretierte.
In den Priesterseminaren sollte eine „neue Zeit“ anbrechen
Wer im Nachbarbistum Aachen Priester werden wollte, ging ins Leoninum nach Bonn. Ein ehemaliger Interessent erzählte mir, was ihn davon abbrachte. Als er sich damals das Leoninum anschaute, sagte ein Seminarist zu ihm ungefähr Folgendes: Er wolle Priester werden, weil er gegen Legebatterien und die schlechte Behandlung der Tiere sei. Da wusste er sofort: „Hier bin ich falsch.“
Wer solche Geschichten für bloße Anekdoten hält, unterschätzt die Krise der Priesterseminare, vor allem in den 1970er- und 80er-Jahren. Das Rosenkranzgebet galt als reaktionär, die Abschaffung des Zölibats als sicher, eine „neue Zeit“ sollte anbrechen. Man sprach über Befreiungstheologie, und es erschienen Bücher über feministische und ökologische Theologie. Es war das Gegenteil des klassischen Christentums, in dem es darum ging, wie es einst Ignatius von Loyola ausdrückte: „Gott Unseren Herrn zu loben, Ihn zu verehren und Ihm zu dienen und so seine Seele zu retten.“
Eine Kirche der „offenen Arme“?
Sich heute darüber zu empören, dass ein Bischof, der vollständig in diesem Milieu geprägt wurde, auch die entsprechenden Positionen vertritt, ist absurd. In gewisser Hinsicht ist Bätzing das Klischee eines „Boomer-Bischofs“. Ein Bischof aus der Babyboomer-Generation, also der Jahre 1955–1965. Damals war Konrad Adenauer Bundeskanzler, und die Wirtschaft florierte. Die Babyboomer-Generation kann die Millennials, die zwischen 1980–1994 geboren sind, und die Zoomer, geboren zwischen 1995–2010, nicht verstehen. Millenials und Zoomer kennen diese kleinbürgerliche Idylle aber nicht mehr und können nur im Widerstand als gläubige Christen bestehen.
Bätzings Wunsch einer „Kirche der offenen Arme“ ist genau vor diesem Hintergrund zu sehen. Er hofft auf eine Verbrüderung mit christlich geprägten Menschen, die für die jüngeren Generationen gar nicht mehr existieren. Heute verläuft die Trennung nicht zwischen ehemaligen Volkskirchlern, die nicht mehr zur Kirche gehen, und grauhaarigen Durchhalte-Omas. Sie verläuft zwischen den das Christentum lächerlich machenden sowie muslimischen Mitschülern auf der einen und den am Christentum Festhaltenden auf der anderen Seite.
Festhalten am Glauben oder Relativismus?
Es gibt keine „offenen Arme“, in die diese jungen Leute laufen möchten. Es geht um das Grundsätzliche, um das Festhalten am Glauben gegen Ausgrenzung, Mobbing und Gewalt. Das ist der Kampfplatz der jungen Christen, der Bätzing anscheinend völlig unbekannt ist.
Bätzing kennt die Volkskirche, in der die „normalen“ Christen sonntags selbstverständlich in die Kirche gingen. Als sich die Kirchen leerten, meinte er, man müsse sich diesen „Normalen“ wieder annähern. Und daher weniger streng sein, offene Arme zeigen, die Sexualmoral lockern – denn ein religiöses Bedürfnis sei ja noch da, und das könne die Kirche befriedigen. Genau dieses relativistische Denken ist der Kern des Problems.
So offenbart er im Stern-Interview die Vorstellung einer bürgerlich-anpassbaren Kirche, die ihre Positionen nach Moden und Trends verändert, um beliebt zu bleiben. Darum seine Aussage: „Viele haben gar nicht gemerkt, wie sehr sich auch Fragen des Gottesbildes bei uns verändert haben, wie viel Spielraum da ist.“ Das ist die Aussage einer Kirche, die spirituell bankrott ist, die nichts anderes anzubieten hat als eine weitere Form von Lebenshilfe oder Motivation – Dinge, die es woanders sogar besser zu haben gibt.
Selbstbewusste Verkündigung der Wahrheit statt ständiger Wandel
In Bätzings Kirche ist der Synodale Weg nur der neueste „Schrei“ eines ständigen Wandels. Wahrscheinlich ist er, wie fast alle deutschen Bischöfe, besser vertraut mit Fichte, Hegel und Kant als mit Thomas von Aquin. Was er nicht versteht: Die Kirchen sind nicht leer, weil sie „zu streng“ und „zu düster“ waren, sondern weil sie es nicht mehr sind. Millennials und Zoomer haben das längst verstanden. Die Kirche kann nur dann attraktiv sein, wenn sie an ihre Wahrheit glaubt und diese auch selbstbewusst verkündet.
Als ich selbst als Jugendlicher wieder zum Glauben fand und vor der Schule in einem katholischen Gymnasium zur Mittwochsmorgenmesse ging, war ich froh, wenn noch einer oder zwei in meinem Alter dort waren. Im Grunde war es vorbei. Die Schule war zwar in kirchlicher Trägerschaft, aber glauben wollte kaum jemand mehr.
Es geht nicht um „offene Arme“. Es geht um ganz andere Dinge: Lohnt sich das Ganze? Ist der Glaube es wert? Ist das Christentum wahr? Heute lautet die Antwort für viele: Nein. Und solange das der Fall ist, leeren sich die Kirchen.
Durch das Christentum in Deutschland geht ein Ruck – und das ist gut
Für meine Eltern wäre es undenkbar gewesen, 30 Kilometer zu fahren, nur um eine heilige Messe zu besuchen, weil man in der Heimatpfarrei keinen Glauben mehr sieht. Ich tue es – und viele meiner Generation und noch Jüngere tun es auch. Wir haben mit Bätzing abgeschlossen. Abgeschlossen mit seinem Verständnis für alles Nichtchristliche und seiner Ablehnung der eigenen christlichen Geschichte. Wir sehen die leeren Kirchen, eine weitgehend entchristlichte Gesellschaft und Bischöfe, die uns nicht den Rücken stärken.
Die gute Nachricht: Wer in Deutschland heute unter 30 Jahre alt ist und sich aktiv zum Christentum bekennt, will keinen Boomer-Liberalismus mehr. Er will wiederaufbauen, was darniederliegt. Dazu braucht es ein Bekenntnis zu sich selbst, zum Glauben der gesamten zweitausendjährigen Kirchengeschichte und zu allem, was verbindlich dazugehört.
Junge Christen sind bereit, Nachteile für den Glauben in Kauf zu nehmen. Sie interessieren sich nicht für Rahner oder moderne Jesuiten, sondern für Thomas von Aquin und die Heiligen. Sie wollen Gott loben, verehren und Ihm dienen und so ihre Seele retten. Durch das Christentum in Deutschland und weltweit geht ein Ruck – und das ist gut.
Kommentare
Eine interessante Perspektive, die uns der Autor hier dankenswerterweise auftut. Die "christlichen Bekenner" der jüngeren Genereation sind eben anders und sozusagen authentischer.
Ich frage mich nur, wie es tatsächlich zu einer innerkirchlichen Trendwende kommen kann. Noch besetzen die Vertreter der "Konzilsgeneration" und deren Nachfolger weitgehend die Schlüsselpositionen in der katholischen Kirche in Deutschland. Wann wird hier endlich die jüngere, gläubigere Generation nachrücken?
Ich bin 1963 geboren und sehe junge konservative Christen mit ihrem konsequent gelebten Glauben auf Basis des Evangeliums und solche Heilige wie Carlo Acutis die Zukunft in den Händen. Ich teile die Meinung von Bischof Bätzing und Irme Stetter-Karp keinesfalls.
Mit Herrn B. verbindet mich nichts, schon gar nicht der Glaube. Rein demographisch werden die U-30-Jährigen keine Volkskirche am Laufen halten. Wenn Herr B. & Co. fertig sind, wird man 120 Kilometer zum nächsten im eigentlichen Sinne katholischen Gottesdienst fahren müssen.