Rückenschule

Soeben stolperte ich auf Focus Online über einen Artikel über das Spazierengehen, näherhin über das Spazierengehen mit hinter dem Rücken verschränkten Händen. Der Grund, mich dabei aufzuhalten, liegt in der Vergangenheit. Ich erinnerte mich dabei an eine meiner Englandreisen und die Bemerkung der Zimmerwirtin auf einer B&B-Farm.
Beim morgendlichen Gang zum Frühstück, bei dem mein Reisegenosse und ich hintereinander auf einem Gartenweg am Küchenfenster vorbeigingen, kommentierte sie gegenüber meinem Mitreisenden dessen hinter seinem Rücken verschränkte Arme. Er wirke wie Prinz Philip, der als Prinzgemahl nicht nur immer hinter der Königin einherschritt, sondern eben auch die Arme stets hinter dem Rücken gekreuzt hatte. Und in der Tat, für die Engländerin lag die Assoziation auf der Hand.
Die erwähnte Beschäftigung des boulevardesken Nachrichtenportals mit der Gewohnheit, die Arme zu bestimmten Gelegenheiten hinter dem Rücken zu kreuzen, erklärt dies im Artikel als einen Fall königlicher Lässigkeit in einer Mischung aus Gelassenheit, Distanz und Aufmerksamkeit. Prinz Philip hatte eigentlich nichts zu sagen, schritt aber doch als der Ehemann der Königin mit dem Bewusstsein einer durchaus mächtigen Person aus der zweiten Reihe in gemessenem Abstand hinter seiner Frau einher. Ein Signal britischen Understatements.
Abstand zum Geschäftigen und Emsigen ist die Voraussetzung für freies Denken
Aber nicht nur in England ist die körpersprachliche Aussage eines Spaziergangs oder einer Wartehaltung mit hinter dem Rücken verschränkten Armen vielsagend. Konzentration, innere Ruhe, Nachdenken, Ordnen von Gedanken und Emotionen, vielleicht auch Überlegenheit liegen darin.
Die Hände, die das Werktätige symbolisieren, geraten aus dem Blickfeld und lassen den Kopf und das Herz frei sein, ohne direkt in die Bildung von Plänen oder Funktionen zu verfallen.

Abstand zum Geschäftigen und Emsigen ist die Voraussetzung für freies Denken. Diese Aspekte korrespondieren bei der genannten Körperhaltung mit dem orthopädischen Effekt, den Rücken zu entlasten und eine bequemere und am Ende auch für Knochen und Muskulatur nützlichere Position einzunehmen. Und darüber hinaus gibt es noch den eigenen Stresstest, den das selbstbewusst-unverkrampfte Schlendern bewirkt. Ist man dazu nicht in der Lage, sollte man runterfahren.
Als ich dieser Beschäftigung mit einem ansonsten wenig beachteten Alltagsphänomen begegnete, war es aber nicht nur meine englische B&B-Wirtin, die mir in den Sinn kam, sondern ebenso blitzartig die Gegenwartssituation der flächendeckend mangelnden Rückgratstärke von Politikern, Medienschaffenden und kirchlichen Funktionären.
Und es schoss mir durch den Kopf, ob es wohl ratsam wäre, eine Rückenschule der besonderen Art zu etablieren, in der sowohl die Entspannung durch nicht zielorientierte Muße als auch die Stärkung der Muskulatur durch aufrechtes Gehen und Stehen gegen den Widerstand ideologievergifteter Anforderungen eingeübt werden könnte.
Die Menschheit bräuchte dringend ein Rückentraining
Aus meiner seelsorglichen Perspektive auf die Alltagswelt bräuchte die Menschheit dringend wieder ein Training, das den Rücken breit und stark macht. Durchaus nicht nur durch muskulären Widerstand, sondern zunächst und vor allem durch das gelassene Schlendern durch die Ideenwelten, um in ruhiger Wahrnehmung – noch bevor man sich zum nächsten strategischen Schachzug zu entscheiden hat – den Dingen auf den Grund zu gehen und nach der ihnen innewohnenden Wahrheit zu fragen.
Mag sein, dass man dann in der zweiten Reihe rangiert, aber es liegt darin dennoch die wesentliche Voraussetzung für eine nicht nur am Verfügbaren orientierte Lebensweise, die weniger nach Nutzen als nach Sinn fragt. Gerade hier befindet sich ganz offensichtlich vieles im Argen. Denn die Reihenfolge hat sich umgedreht.
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Es geht in erster Linie nicht um das, was ist, sondern um das, was machbar ist. Dem werden alle Sichtweisen des menschlichen Wesens untergeordnet und passend gemacht. Der Wert des Menschen bemisst sich nach dem, was er kann und nach dem, was ihn autonom macht. Es geht nicht um sein Wesen unabhängig von Nutzungszusammenhängen, sondern um seine Einbettung in das Netzwerk nützlicher Tätigkeiten.
Da bleibt nicht nur keine Zeit für das Schlendern, es wird sogar suspekt, weil es die Ausbildung von Brauchbarkeiten bremst. Die Frage nach dem Wesen des Menschen ist zum Beispiel jenen ein Dorn im Auge, die den Menschen zum werktätigen Element in der Welt der Produktion entkernen wollen.
Transhumanismus und Co. arbeiten auf Basis eines rückgratfreien Menschseins
Ebenso hindert das Fragen des Nachdenkers mit auf dem Rücken verschränkten Armen unter Umständen das mittlerweile zum Postulat erhobene Streben nach Autonomie und Selbstbestimmung, weil eben das Betrachten von Wesenskernen in der Regel ein anderes Ergebnis zutage fördert, als es die Forderung nach Loslösung von Wesentlichem sehen möchte.
Transhumanismus und andere anthropologische Zersetzungserscheinungen arbeiten auf der Grundlage eines weltanschaulich rückgratfreien Menschseins, das man von der Kinderkrippe bis zum Masterstudiengang heranziehen will.
Mit Vernebelung der Wirklichkeit durch ideologisierte Wahrnehmungstrübungen, mit der Knebelung geistiger Gehversuche jenseits dessen, was aus der Sicht gesellschaftspolitischer Modeschöpfer en vogue ist, durch Vereinseitigung und durch bewusstes Verschweigen der großen Erzählungen der Menschheit und deren Stigmatisierung als fortschrittsschädlich wird der Mensch mehr und mehr zum homo in se curvatus, wie es das Mittelalter formuliert hätte, zum in sich verkrümmten und auf sich selbst zurückgeworfenen Menschen.
In dieser Haltung ist er eben gerade nicht bei sich, sondern gibt sich selbst auf, ist doch seine eigentliche Berufung das aufrecht stehende und gehende Wahrnehmen der Wirklichkeit mit starkem Rückgrat, das dem Versuch standhalten kann, den Blick auf sich selbst statt auf das zu wenden, was außerhalb des Menschen ist. Denn allein das kann stark und lebendig halten. Ganz einfach, weil das, was außerhalb des Menschen ist, eine Ahnung davon schenkt, dass es ein Ziel und einen Sinn für die menschliche Existenz gibt.
Die Muße als Grundvoraussetzung gesunden Fortschreitens
Was die orthopädische Rückenschule des Spazierengehens mit auf dem Rücken verschränkten Armen für die Wirbelsäule ist, ist auf dem Gebiet geistigen Lebens das vollzogene Schlendern des Verstandes, der von der Werktätigkeit seiner Fangarme dispensiert ist und zur Betrachtung und zweckfreiem Denken freigesetzt. Dies nennt man „Muße“. Beides stärkt das Rückgrat: dem Körper als Grundvoraussetzung gesunden Fortschreitens, dem Geist nicht minder als Grundvoraussetzung zum wirklichkeitsgemäßen Menschsein.
Leider ist man sich nur orthopädisch einig über die bedarfsweise Notwendigkeit einer Rückenschule. Auf dem intellektuellen – ja selbst auf dem religiösen – Sektor ist das Gegenteil gefragt: die widerstandsfreie Unterordnung des Menschen unter die Diktatur des Eindimensionalen und die Vermeidung jeder zweckfreien Kontemplation.
Denn die Kontemplation könnte womöglich in ihrer Einübung des Abstandnehmens von allem, was dem Wesen des Menschen zuwider ist, genau dies entdecken: dass es ein Wesen des Menschen gibt, das er sich selbst nicht machen kann und von dem zu befreien nicht das Glück, sondern den Tod des Menschen bedeuten würde.
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Kommentare
Guter Artikel mit vielen Denkanstößen.Wer aber kommt auf die absurde Idee, den hochstehenden Daumen mit 100% Zustimmung zu verbinden. Das entspricht nicht einem differenzierten und freiheitlichen Denkmodell.
Rodheudt ist und bleibt eine Bank! Ich wäre gern in seiner Gemeinde!