Vom rechten Beten
„Es geht ein Gespenst durch Europa – das Gespenst des Rechten“. So könnte in Abwandlung des ersten Satzes des Kommunistischen Manifests die Eröffnung einer Schrift über den Angstgegner einer mittlerweile definitorisch recht unscharf bestimmten bürgerlichen Mitte in der Gesellschaft lauten. Wie Karl Marx 1848 mit dem Begriff „Gespenst des Kommunismus“ die Furcht der europäischen Mächte vor der von ihm angestoßenen revolutionären Bewegung einfing, so beschwört derzeit die subkutan linksgedrillte „Mitte“ in politischen Parteien und gesellschaftlich relevanten Institutionen das Phänomen des „Rechten“ als die zentrale Gefahr der Freiheitsbedrohung der Gegenwart.
Lange war diese Diskussion etwas für politisch Aktive und Interessierte. Jetzt ist sie in aller Munde und hat den täglichen Smalltalk am Küchentisch erreicht. Wer sich eingehender mit der neuen Explosivität des binären politischen Ordnungsmusters beschäftigen will, tiefgründiger als es an dieser Stelle weder Platz noch Absicht erlauben, sei die Lektüre des kürzlich erschienen Buches des Würzburgers Ordinarius für Neueste Geschichte, Peter Hoeres „Rechts und links. Zur Karriere einer folgenreichen Unterscheidung in Geschichte und Gegenwart“ empfohlen.
Die „originelle, quellengesättigte Studie“ (Welt) beschreibt den inneren Wandel der Gesinnungseinteilung und zugleich die aktuelle Zuspitzung des binären Schemas als Gefahr für den Rechtsstaat und das friedliche Zusammenleben in unserer Gesellschaft. Es läge mir fern, diesen Konflikt hier als Pfarrer zu vertiefen, wenn sich nicht die Temperierung der Diskussion schier täglich deutlich erhöhen würde und nicht auch – und vielleicht sogar besonders – die stets um Gegenwartsaffinität und gesellschaftliche „Anschlussfähigkeit“ bemühte Kirche in Deutschland erreicht hätte.
Streng „gegen rechts“ marschieren katholische und evangelische Institutionen und Beamtenapparate
Natürlich kann ich nur für meinen katholischen Beritt sprechen, aber das minimiert nicht den Wahrnehmungsrahmen eines Phänomens, das beide Kirchen in trauter Gemeinschaftlichkeit als staatlich alimentierte Körperschaften öffentlichen Rechts vereinigt. Streng „gegen rechts“ marschieren katholische und evangelische Institutionen und Beamtenapparate bei allen möglichen Gelegenheiten – zur Not auch, wie zum Beispiel beim „Marsch fürs Leben“, Seit’ an Seit’ mit dezidiert Linken und der Antifa.
Grundüberzeugung ist dabei: rechts (was immer das nun auch genau sein mag) ist die Bedrohung des Landes, „in dem wir gut und gerne leben“ wollen (Angela Merkel). Die kirchlichen Akteure unterfüttern dies noch zusätzlich mit einer bislang in der christlichen Verkündigung unbekannten, aber nun zur Doktrin erhobenen „Ambiguitätstoleranz“. Der Begriff bezeichnet die Akzeptanz gegensätzlichster Überzeugungen als gleichwertig und gleich gültig. War man bislang zur Toleranz angehalten, die aus christlicher Sicht immer schon die Art und Weise des Umgangs mit Andersdenkenden und -lebenden war, wird diese Haltung des Ertragens einer Koexistenz, bei der die eigene Überzeugung unverändert bleibt, zum Abschied von eben dieser Überzeugung.
Damit ist die Preisgabe dessen erreicht, was man als den Satz vom Widerspruch kannte, nach dem ein allgemeines Urteil nicht zugleich als wahr und falsch behauptet werden kann, was auch der Fall ist, wenn zwei gegensätzliche Urteile gleichermaßen als wahr betrachtet werden. Das, was einst „Wahrheit“ genannt werden durfte und deswegen unter anderem wegen seiner Unwandelbarkeit und Absolutheit Ausgang für die Mission war, ist bloß noch ein Produkt im Regal der Weltanschauungsangebote, das sich – bitteschön – dort nicht zu breit und womöglich zu laut, zu sichtbar und zu dominant präsentieren darf. Das Gegenteil muss auch Platz haben und zwar nicht nur auf dem Marktplatz in tolerantem Respekt, sondern auch in der Kirche.
Durch feine Risse in den geistigen Mauern sind im Laufe der Zeit die gegensätzlichsten Überzeugungen, Menschenbilder, Moralen in die Kirche eingedrungen und machen den überlieferungstreuen Gläubigen vom Überzeugten zum Überzeugungstäter – und damit: zum „Rechten“! Denn „rechts“ ist man offenbar dann, wenn man eine Wahrheit für Wahrheit und damit für exklusiv hält, wenn man sich erlaubt, seine Freiheit des Denkens in Anspruch zu nehmen und sich nicht dem Diktat der Beliebigkeit beugt.
In der von Peter Hoeres beschriebenen begrifflichen Grenzverschleierung, die aus „rechts“ „rechtsradikal“ macht, übernimmt nun im Weiteren die keineswegs bunte, sondern recht einfarbige Linke die Deutungshoheit auch im bürgerlichen und im kirchlichen Lager und verteilt Warn- und Stoppschilder im Diskurs, die die Demarkationslinien für das Ende der Toleranz kennzeichnen – eine apodiktische Uniformierung des Denkens.
Die Erfahrung Tatjana Goritschewas
Wie so oft folgt die breite Masse zunächst dem Strom und skandiert gehorsam alle Parolen, die man ihr an die Hand gibt, um jede Abweichung von der libertinistischen Dogmatik niederzuschreien. Das Ende des Diskurses ist dann schon beschrieben, wenn man sich die Freiheit nimmt, nicht libertinistisch zu sein. Und das ist auch kein Wunder, denn Unverhandelbarkeiten sind auf dem Markt des Verhandelbaren nicht unterzubringen.
Und so rutscht auch die Schar der Gläubigen, die sich einem verbindlichen Offenbarungsgut verpflichtet weiß, mehr und mehr in die Rolle gemeinschaftsfeindlicher Freaks, die man als inkompatibel bis gefährlich ächten darf. Man ist zuweilen an das Buch der im vergangenen September verstorbenen sowjetrussischen Regimekritikerin Tatjana Goritschewa erinnert. Nach ihrem Philosophiestudium bekehrte sie sich 1973 mit sechsundzwanzig Jahren zum Christentum und kehrte dem dialektischen Materialismus den Rücken.
Weil aber Christentum und Marxismus in Wahrheit unversöhnliche Gegensätze sind, verlor sie infolge ihrer Taufe Beruf und Karriere und bescherte ihr erst die Verfolgung durch den KGB und anschließend 1980 die Ausweisung aus der Sowjetunion. Ihre Erfahrungen mit dem linken Totalitarismus schilderte sie 1988 in dem Buch „Von Gott zu reden ist gefährlich“. Darin ist unter anderem eines dokumentiert: Dass es nicht nur im Osten gefährlich war, von Gott zu sprechen, weil Er das System eines materialistischen Weltbilds durcheinanderbringt, sondern auch im Westen der Begriff „Gott“, wenn man ihn ernsthaft – und das heißt gläubig – verwendet, sogar in der Kirche zuweilen als bedrohlich empfunden wird.
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Die Erfahrungen der russischen Bekehrten mit der deutschen Kirche und ihrer Theologie sind erschütternd. In einem Tagebucheintrag nach ihrer Ausweisung beschreibt sie die Begegnung mit einem katholischen Priester beim geselligen Ausflug. Der Geistliche war jung, lustig und sportlich. Er redete während der zweitägigen Tour viel, vor allem über Flugzeuge und Fußball, aber nicht von Gott, obwohl es offenbar dazu bei der Fahrt durch eine einzigartige Berglandschaft Gelegenheit genug gegeben hätte.
Auf die Frage Goritschewas, wieso er in den vielen Stunden nie über Gott gesprochen habe, bekam sie zur Antwort: „Wenn ich von Gott zu sprechen beginne, verliere ich meine Leute.“
Die Reduktion der kirchlichen Sprache auf gesellschaftlich kompatible Eindimensionalität
Diese aus den 1980er Jahren stammende Begebenheit ließe sich heute in Vollendung bestätigen. Denn die Reduktion der kirchlichen Sprache auf gesellschaftlich kompatible Eindimensionalität ist weiter fortgeschritten. Die Zeiten, so liest man auf der Homepage einer deutschen Diözese, in der die Kirche den Menschen gesagt habe, wie sie leben sollten, seien passé. Und ich dachte immer, Jesus hätte den Aposteln vor Seiner Himmelfahrt aufgetragen: Macht alle Menschen zu meinen Jüngern und lehrt sie, alles zu befolgen, was ich euch geboten habe (vgl. Mt 28,19f).
Beobachtet man die Verdunstungsgeschichte der quasistaatskirchlichen Verkündigung stellt sich die Situation heute noch weitaus bedrohlicher dar, als sie Tatjana Goritschewa 1980 in Deutschland vorfand. Denn während sie in der Sowjetunion die Erfahrung gemacht hatte, dass es gefährlich ist, von Gott zu reden, und später hier bei uns diesbezüglich weniger Gefahr als Desinteresse verspürte, ist es heute eine neue Form von Bedrohung, die das kirchliche Establishment in unserem Land medial gegen Christen (vor allem junge) inszeniert, die einen schnörkellosen, entschiedenen, frommen und transzendenzsicheren Glauben praktizieren.
Als Stichprobe im Umgang mit entschiedenen und überlieferungstreuen Christen mögen zwei Wortmeldungen der katholischen Sozialwissenschaftlerin Ursula Nothelle-Wildfeuer dienen. Die eine verspürte schon 2018 die Gefahr einer evangelikalen „Versektung“ durch das seinerzeit publizierte „Mission Manifest“, eine Zusammenfassung des katholischen Glaubensgutes und ein Bekenntnis zum Erfordernis seiner Weitergabe, das sich in eindeutiger Weise zum persönlichen Gottesglauben jenseits „exegetioider“ und zeitgeistlicher Verwässerung bekannte.
Damit steht Frau Nothelle-Wildfeuer in der katholischen Kirche unsere Tage nicht allein. Ihr Unwohlsein bekundete sie kürzlich über die aus ihrer Sicht bedenkliche Tendenz junger Christen, in Lobpreismusik ihrem Glauben Ausdruck zu verleihen. Unter der Überschrift „Ein Lob auf die theologische Mündigkeit“ reagierte sie halb empört, halb angewidert auf die Stellenausschreibungen deutscher Diözesen für Mitarbeiter mit Schwerpunkt „Lobpreis“ – von Diözesen also, denen der Gedanke der persönlich gefärbten Verkündigung eines großen Gottes, dem Lobpreis zu Ehre in Musik und Leben zukommt, noch nicht gänzlich abhandengekommen ist.
Zu diesem strategisch geplanten Einsatz von Worship Music schrieb sie im Oktober in der Herder-Korrespondenz:
„Kann Evangelisierung im Modus der Worship-Musik gelingen, die auf Wiederholung, Vereinfachung und eine Sprache der totalen Hingabe setzt? Verkündigung, die sich auch zugleich mit den vielfältigen Anfragen der Moderne an Religionen und die Kirche auseinandersetzen muss, wird ersetzt durch populistisch anmutende einfache Antworten.“
Lobpreis ist „vereinfachend“ und führt zur totalen Hingabe?
Oha! Lobpreis ist „vereinfachend“, wiederholt Verehrungsinhalte, führt zur totalen Hingabe und ist deswegen „populistisch“ und deswegen vermutlich auch „gesichert rechts“. Dass diese abstruse bis neidische Kenntnisnahme eines neu entfachten „Quiet Revival“ von Glaube und Kirche bei jungen Leuten jenseits zersetzender Intellektualisierungen des Glaubens keine Einzelstimme ist, bekundet ein Artikel der Katholischen Nachrichtenagentur (KNA), der heute am Tag der Entstehung dieser Kolumne auf dem zu hundert Prozent aus Kirchensteuermitteln finanzierten Erklärportal der deutschen Bischöfe katholisch.de breit gestreut wird. Inhalt: die Warnung vor zu viel Gebet. Ja, man hat richtig gelesen.
Ein paar Kostproben. Der Artikel befasst sich mit der Gebets-App „Hallow“, die direkt eingangs als „umstritten“ bezeichnet wird, um den Leser einzunorden. Amerikanische Promis und Künstler laden dazu ein, im Advent die Gebets-App herunterzuladen und mittels ihrer Angebote zur Ruhe zu kommen, Stille und Gebet zu finden.
Dazu werden die offenbar als anstößig empfundenen Aussagen diverser Sänger und Schauspieler zitiert:
„Es ist wichtig, dass wir in dieser Weihnachtszeit Zeit im Gebet verbringen.“ – „Bei all dem, was im Familienleben und in der Arbeit passiert, ist es schwer, zur Ruhe zu kommen. [...] Gott ist da“ [...] Wir können jede Herausforderung und jedes Unbehagen zu ihm bringen, er führt uns mit seiner Barmherzigkeit und Liebe.“
Ein anderer erklärt, wie er die Feier von Weihnacht von Überfrachtungen mit Äußerlichkeiten freihält und sich dem Kern des Festes zuwendet. „Weil wir das größte Geschenk feiern, das Gott uns je gemacht hat, und das ist sein Sohn, Jesus Christus.“
Liebe Bischöfe, habt ihr euch von der Unmittelbarkeit des Glaubens entfernt?
Was nun könnte an all dem falsch sein? Wir werden aufgeklärt: einige Beiträge von Promis auf der frommen App stoßen auf Ablehnung ihrer Fans, denn: „Viele Fans aus der LGBTQ+ Community fühlten sich verraten.“ Und warum? Aha: „Die Macher von Hallow lehnen Schwangerschaftsabbrüche ab und gelten als konservativ.“ Zitiert wird einer ihrer Mitbegründer: „Ich möchte damit beginnen, dass Hallow stolz und unmissverständlich die gesamte Lehre der katholischen Kirche unterstützt, insbesondere die Pro-Life-Haltung der Kirche und die Bestätigung der USCCB (nordamerikanische Bischofskonferenz, Anm d. Verf.), dass das Ende der Abtreibung oberste Priorität hat.“
Heieiei... wir ahnten es! Und dann endet der KNA-Artikel mit einer Warnung: „Die App bedient laut Kritikern eine neue, anti-woke-konservative Frömmigkeitsform im Einklang mit dem immer populärer werdenden amerikanischen Rechts-Katholizismus.“ So schnell ist die Laube fertig! Beten aufgrund von tradierten Gottesbildern und -weisungen ist „rechts“! Pro-Life ist anti-woke und also „rechts“.
Liebe Bischöfe! Wir sind erschüttert über eure unkommentierte Übernahme dieser politisierenden Stigmatisierung katholischer Frömmigkeit! Kann es sein, dass ihr euch schleichend entfernt habt von der Direktheit und Unmittelbarkeit des Glaubens und Betens, wie wir es bald wieder an der Krippe erleben werden?
Denn da stimmen naive Hirten in den zutiefst populistischen Lobpreis der Engel ein und scheuen sich weise Könige nicht, ohne jede Vernünftelei ihr Knie zu beugen, von dem niemand auf der Welt wissen will, ob es ihr rechtes war ...
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Kommentare
Die Lösung hat Papst Benedikt schon 2011 in Freiburg aufgezeigt: „Entweltlichung“!
Befreit die Bischöfe endlich vom süßen Gift der Kirchensteuer!
Ach, irgendwie, mit diesem ganzen „links“ und „rechts“, ich weiß nicht mehr, es ermüdet. Wahrscheinlich würde in diesem Land endlich etwas Ruhe einkehren, schaltete man mal für vier Wochen alle Internetserver aus.
Ich werde die App direkt herunterladen, vielen Dank!
Katholisch.de wäre nur ein bedauernswertes Blasen-Portal. Als offizielles Portal der DBK ist es aber in seiner gnadenlosen Einseitigkeit und Ablehnung überlieferungstreuer Gläubiger eine Schande für die Bischöfe.
Danke an den Kolumnisten für seinen Mut. Möge es nur mehr davon geben.
Was ich in diesem Zusammenhang wichtig finde: Nicht die Kirche ist es, die den "Kampf gegen rechts" führt. Es ist auch nicht die Kirche, die eine hartherzige und ausgrenzende Brandmauerpolitik betreibt. Die Kirche ist heilige und makellose Braut Jesu Christi. Deshalb kann sie gar nicht so etwas wie ein "linksliberaler Verein" sein. Es sind bestimmte kirchliche Amtsträger, die in diese Richtung wirken und einen entsprechenden Anschein erwecken. Für die Kirche gilt sicher: "Das Wesentliche ist unsichtbar". Man denke dabei nur an die Gläubigen, die bei der Kommunion übergangen werden, weil sie die Mundkommunion empfangen wollen. Das sind Leute, die kein Standing in der kirchlichen Nomenklatura haben, keine "Partizipationsrechte" ausüben, und trotzdem sind sie es, die die Kirche wahrhaft repräsentieren. Die Unterscheidung "Kirche" und "kirchliche Amtsträger" mag manchmal gestelzt klingen. Man muss hier aber tatsächlich nach Wegen sprachlicher Abgrenzung suchen, damit nicht ein falsches Bild von Kirche entsteht.