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Kolumne „Der Schweizer Blick“

Eine große Leere

Am Schluss einer Affäre, die sich über Jahre zog, stand ein Gerichtsurteil. Oder besser: eine Gerichtsentscheidung ohne echtes Urteil. Im Zentrum: historische Hausinschriften in Zürich mit dem Wortbestandteil „Mohr“. Rassistisch sei das, befand Stadtpräsidentin Corine Mauch und verfügte, der unerträgliche Anblick sei zu bedecken.

Der Heimatschutz, eine Organisation im Bereich der Baukultur, wehrte sich dagegen, nicht aus politischen Gründen, sondern weil es seine Aufgabe ist, die Vergangenheit zu beschützen. Der letzte Akt: Das Schweizer Bundesgericht stellte fest, der Heimatschutz sei in dieser Sache nicht zur Beschwerde berechtigt. Die Richter wiesen die Angelegenheit ab, ohne sich inhaltlich mit der Frage beschäftigen zu müssen, das Schicksal der Hausinschriften war besiegelt.

Die meisten Schweizer Journalisten beklatschten, dass der „Mohr“ endgültig verschwinden muss. Der Tages-Anzeiger beispielsweise befand, niemand brauche solche Hausbezeichnungen – und mit der Verbannung werde lediglich veränderten Bedürfnissen Rechnung getragen.

Erst bedeutsam, dann eine Bagatelle

Die Unterteilung in Gut und Böse war schnell gemacht. Wer antritt, um Spuren der Vergangenheit aus dem Stadtbild zu tilgen, der gilt als sensibel und aufgeklärt. Wer sich dagegen wehrt, weil es sich um historische Schriftzüge handelt, wird als hoffnungslos rückständig und kulturkämpferisch abgewatscht. Eine Verkehrung der Werte, wie sie im Lehrbuch der Cancel Culture nicht schöner stehen könnte.

Seltsam auch, wie ein Anliegen zunächst sehr bedeutsam, dann plötzlich eine Bagatelle sein kann. Hieß es zunächst, als alles begann, das mit dem „Mohr“ gehe gar nicht und müsse dringend gelöst werden, galt dann beim ersten Aufkeimen von Widerstand, es gehe hier doch nur um „Bagatellen“. Gleichzeitig wurde verzweifelt versucht, den architektonischen Eingriff kleinzureden.

Das geschah beispielsweise mit dem Einwand, dass die Inschriften nicht aus dem Mittelalter, sondern „nur“ aus dem frühen 20. Jahrhundert stammen und entsprechend nicht von großem historischen Wert seien. Über 100 Jahre: Das ist durchaus schon ein Weilchen her, wenige von uns dürften damals bereits auf der Welt gewesen sein. Auch solche Fassadenmalerei ist Zeitzeuge – einer Sprache, eines Denkens, einer Gesellschaft. Es gibt keinen einzigen rationalen Grund, diesen Teil der Vergangenheit zu übertünchen. Was es aber gibt: eine irrationale Empfindlichkeit, befeuert von einer kleinen, aber lautstarken Minderheit.

Wer hat die stärkere Lobby?

Dass es keinen rationalen Grund gibt, lässt sich so selbstsicher feststellen, weil nie ein solcher ins Feld geführt wurde. Wer nimmt Schaden, wer ist derart traumatisiert von einer Schrift auf einem Gebäude? Begründet wurde die Zensurmaßnahme dafür mit schwammigen Begriffen aus dem Reich der individuellen Emotionen. Sensibilitäten verändern sich, argumentierten die Verteidiger der Abdeckung. Aber was ist mit der Sensibilität derer, die sich durch die Tilgung von Geschichte beleidigt fühlen? Die Frage stellte sich nicht, denn diese Menschen haben keine Lobby, keine Macht. Und vor allem: keinen moralischen Überlegenheitsanspruch, den sie in den Ring werfen könnten.

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Wenn einmal damit begonnen wird, kulturelle Relikte nach heutigen Maßstäben zu bewerten, wird es kein Ende geben. Der Metzger stört den Veganer, das Kreuz den Atheisten, das Schützenhaus den Pazifisten. Und irgendwann bleibt von unserer Geschichte nur noch ein glattpoliertes, beliebig interpretierbares Vakuum. Eine große Leere nach dem Motto: Wo nichts ist, kann auch nichts im Weg sein.

Was wir erleben, ist kein Fortschritt, sondern ein Rückschritt. Kein Schutz vor Diskriminierung, sondern eine Form von Realitätsverweigerung. Sprache, Bilder, Begriffe – sie verlieren ihren historischen Kontext und werden nur noch durch die Brille des aktuellen Zeitgeistes bewertet. Und dieser Zeitgeist ist oft nicht mehr als die Laune eines akademischen Milieus mit zu viel moralischem Sendungsbewusstsein.

Verloren geht die Fähigkeit, Geschichte zu verstehen

Dass das Wort „Mohr“ historisch belegbar gar nicht das ist, für das es Antirassisten halten oder ausgeben, eine Herabsetzung von Menschen mit dunkler Hautfarbe: Das spielte in der ganzen Debatte zu keinem Zeitpunkt eine Rolle. Denn das wäre auf eine sachliche Debatte mit Fakten hinausgelaufen. Empörte aber wollen keinen Austausch mit Argumenten, auf die sie Antworten finden müssen. Sie wollen nur den sofortigen Vollzug ihrer Ansprüche.

Zürich setzt mit der Übermalung ein Zeichen – nur leider nicht dasjenige, welches es glaubt zu setzen. Es ist ein Zeichen der Schwäche, der historischen Unsicherheit, der Unfähigkeit, mit gesellschaftlichen Ambivalenzen zu leben. Wer glaubt, Rassismus lasse sich durch Malerrollen und Verbotsschilder bekämpfen, ist nicht moralisch überlegen, sondern hilflos.

Man mag den Begriff „Mohr“ heute als unangebracht empfinden, weil man sich nicht die Mühe macht, seine Ursprünge zu erkunden. Wer aber davon profitieren soll, dass er getilgt wird, bleibt offen. Denn dass Passanten beim Anblick einer Hausinschrift von spontanen rassistischen Wallungen ergriffen werden, wurde bisher nicht dokumentiert.

Worte lassen sich überpinseln. Die Geschichte nicht. Wer es trotzdem versucht, wird eines Tages merken, dass er damit nicht die Vergangenheit auslöscht, sondern nur die Fähigkeit verliert, sie zu verstehen.

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