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50 Jahre Fristenregelung in Österreich

Es ist Zeit, hinzusehen und leben zu lassen

Nicht nur in Biographien, auch in der Geschichte eines Staates gibt es Schicksalstage. Vor 50 Jahren wurde in Österreich Abtreibung unter bestimmten Bedingungen straffrei. Damit begann auch hier jene Dynamik von Tod und Schuld, die sich im Wesentlichen „unterirdisch“ und sprachlos abspielt. Denn Verdrängung ist wohl die einzige Möglichkeit, als Gesellschaft mit der Last umzugehen, dass in den vergangenen Jahrzehnten in Österreich hunderttausenden Menschen das Lebensrecht abgesprochen wurde.

Am 29. November 1973 stimmte der österreichische Nationalrat mit den Stimmen der SPÖ und gegen die Stimmen von ÖVP und FPÖ dem Antrag zur „Fristenregelung“ zu. Der Bundesrat, in dem es andere Mehrheiten gab, legte ein Veto gegen das neue Strafgesetz ein; im Januar 1974 fasste der Nationalrat dann aber einen „Beharrungsbeschluss“, womit nun das Veto des Bundesrates durch den Nationalrat wiederum aufgehoben wurde. Am 1.1. 1975 trat in Österreich die „Fristenregelung“ in Kraft.

Was bedeutet das konkret? Weiterhin steht Abtreibung in Österreich im Strafgesetzbuch (Paragraph 96). Der Folgeparagraph stellt aber Straffreiheit für Abtreibung unter bestimmten Bedingungen fest: Erstens, wenn der Schwangerschaftsabbruch innerhalb der ersten drei Monate der Schwangerschaft nach vorhergehender ärztlicher Beratung vorgenommen wird; oder, zweitens, wenn der Schwangerschaftsabbruch zur Abwendung einer ernsten Gefahr für das Leben oder eines schweren Schadens für die körperliche oder seelische Gesundheit der Schwangeren erforderlich ist oder eine ernste Gefahr besteht, dass das Kind geistig oder körperlich schwer geschädigt sein werde oder wenn die Schwangere zur Zeit der Schwängerung unmündig gewesen ist und in allen diesen Fällen der Abbruch von einem Arzt vorgenommen wird.

Oder, drittens, wenn der Schwangerschaftsabbruch zur Rettung der Schwangeren aus einer unmittelbaren, nicht anders abwendbaren Lebensgefahr unter Umständen vorgenommen wird, unter denen ärztliche Hilfe nicht rechtzeitig zu erlangen ist.

Ein Paradigmenwechsel mit ungeheuren Folgen

Bundeskanzler Bruno Kreisky (SPÖ) war ursprünglich von den Vorstößen der SPÖ-Frauen in Richtung einer liberaleren Gesetzgebung in Bezug auf Abtreibung alles andere als begeistert und befürchtete massive Stimmenverluste bei der nächsten Nationalratswahl: „Ich weiß zwar, wie man Wahlen gewinnt, ich weiß aber auch, wie man sie verliert, und jetzt bei dieser Abtreibungssache schaut es ganz danach aus.“ Doch leider irrte Kreisky, dessen Einwand, wonach „nur sehr arme und sehr ungebildete Gesellschaften“ Abtreibung als Mittel der Geburtenkontrolle bräuchten, vom erstarkenden Feminismus in der SPÖ schlichtweg vom Tisch gefegt wurde – und die SPÖ erlebte 1979 sogar den größten Wahlerfolg ihrer Geschichte.

Vorschau Österreichs Bundeskanzler Bruno Kreisky (SPÖ)
Österreichs früherer Bundeskanzler Bruno Kreisky (SPÖ): Alles andere als begeistert

Die Einführung der Fristenregelung stellte einen Paradigmenwechsel mit ungeheuren Folgen dar: Diejenigen, die das ungeborene Leben schützen, das zentrale Menschenrecht auf Leben bewahren wollen, sind seitdem in der Defensive, ungeachtet dessen, dass ein von der „Aktion Leben“ initiiertes Volksbegehren „Zum Schutz des Lebens“ (1975) den für Österreich sensationellen Erfolg von 900.000 Unterschriften erzielte.

Lebensschutz ist seit 1973 in einer schlechten Position, weil sich der Feminismus immer determinierender, lauter und offensiver in die Köpfe hineinreklamiert hat – jener Feminismus, der sich wesentlich über die Zustimmung und den freien Zugang zur Abtreibung definiert. In der Defensive ist Lebensschutz in Österreich (und weltweit) auch deshalb, weil die Mehrheit der Menschen dazu einfach schweigt und den organisierten Lebensschutzgruppen medial kaum Raum gegeben wird, ohne dass sie als „radikal“, „fundamentalistisch“ etc. geframt werden.

Nicht zuletzt hat Lebensschutz auch deshalb eine schwache Stimme in Österreich, weil mittlerweile die Last und die Betroffenheit von Abtreibung quer durch die Bevölkerung so groß geworden sind. Und noch viel größer ist die Sprachlosigkeit hinter den Bergen von Schuld und Verdrängung.

Apropos Verdrängung – sind wir Österreicher vielleicht so etwas wie Superverdränger, denen es ganz recht ist, dass die 1973 versprochenen „flankierenden Maßnahmen“ (Trennung von beratendem und abtreibendem Arzt, verpflichtende Bedenkzeit ...) bis heute nicht eingeführt wurden?

Die Mentalität der Österreicher ist von Wegsehen und Schweigen geprägt

Es ist doch haarsträubend, dass man hierzulande in Ermangelung einer offiziellen Statistik noch nicht einmal sagt, wie viele Abtreibungen pro Jahr durchgeführt werden! Dass jede dritte Schwangerschaft in Österreich mit einer Abtreibung endet, ist eine Schätzung – und mehr als erschreckend! Und wenn, wie jetzt in Salzburg und Tirol angedacht, sanfte Bestrebungen in Richtung einer Statistikerhebung angedacht sind, folgt ein linker Aufschrei.

Initiativen, die jene Mindeststandards verantwortungsvoller Begleitung von Frauen im „Schwangerschaftskonflikt“ anmahnen, prallen an den politisch Verantwortlichen ab. Umso mehr, als aktuell die Grünen – in permanentem Selbstwiderspruch zur Natur- und Umweltbezogenheit immer schon die abtreibungsfreundlichste politische Kraft – Regierungsverantwortung tragen.

Und natürlich, die großflächige Mentalität in Österreich ist Nichthinschauen, Stillsein, maximal dieses vermeintlich ausgewogene „Natürlich bin ich nicht dafür, aber es gibt Fälle, wo ich es verstehen kann“ – tödliches Verständnis. Schafft es das Thema einmal auf die mediale Ebene, so ist man rasch bei jener verbogenen Pseudoargumentation, die gerne die vielzitierte Stricknadel als Alternative zum „medizinisch sauberen Abbruch“ aufs Tapet bringt.

Als ob das heute der Punkt wäre. Von Abtreibungsbefürwortern wird die österreichische Fristenregelung vielfach als „Kompromiss“ (zwischen völliger Freigabe des Schwangerschaftsabbruchs und grundsätzlicher Strafbarkeit) bezeichnet. Doch der vermeintliche Kompromiss ist insofern faul, als er für das ungeborene Kind, dessen Mutter sich für eine Abtreibung entscheidet, schlicht und einfach den Tod bedeutet. Ganz kompromisslos.

„Offene Wunde in der Geschichte der Zweiten Republik“

Ja, die „offene Wunde in der Geschichte der Zweiten Republik“, wie Kardinal Franz König die Fristenregelung bezeichnete, klafft und empört – und stört doch viel zu wenig innerhalb der österreichischen Gesellschaft, die längst eine Gesellschaft von Betroffenen ist. Der unermüdlichen Pro-Life-Bewegung, allen voran der „Jugend für das Leben“, die den jährlichen „Marsch fürs Leben“ in Wien mitträgt, ist wesentlich zu verdanken, dass das Thema doch immer wieder einmal aufflackert. Das ist aber ein Feuer, das man möglichst schnell wieder löscht.

Dafür schreit die politische Linke, vornehmlich Frauen, bei jedem unseligen „Jubiläum“ nach einer weitergehenden Liberalisierung der Abtreibungsgesetzgebung. So auch jetzt, anlässlich des 50. Jahrestags der Beschlussfassung der Fristenregelung im Nationalrat. Man hält sich gleichsam Augen und Ohren zu – schließlich ist extreme Wirklichkeitsverweigerung ja das Grundprinzip der Abtreibung – und schreit: „Vorwärts!“

Dass Behindertenverbände seit Jahren die Diskriminierung von ungeborenen, behinderten Kindern anprangern (die in Österreich bis unmittelbar vor der Geburt straffrei abgetrieben werden dürfen), wird ebenso großzügig ignoriert wie die Tatsache, dass in Österreich die Beratungsinstitutionen für schwangere Frauen nach wie vor weitestgehend von Spenden abhängig sind.

Gesinnungsverfall in der ÖVP

Wie überall auf der Welt wird auch hierzulande das „Selbstbestimmungsrecht“ der Frau direkt mit einem subjektiven, gleichsam moralischen „Recht auf Abtreibung“ gleichgesetzt, was sich mittelfristig politisch manifestieren soll. Bezeichnend die Aktion der Abtreibungslobby zum 50. Jahrestag des Beschlusses der Fristenregelung: Vor dem Parlament in Wien zerschneiden Aktivistinnen von „Pro Choice Austria“ ein Banner, auf dem der Paragraph 96 StGB abgedruckt ist. Abtreibung soll aus dem Strafgesetzbuch heraus, als medizinische Leistung auf ärztliche Verordnung gratis sein; außerdem wird ein flächendeckendes Angebot für Abtreibung in Krankenhäusern beziehungsweise bei niedergelassenen Ärzten gefordert.

Wie weit der diesbezügliche Gesinnungsverfall auch innerhalb der christlich-sozialen Österreichischen Volkspartei (ÖVP) fortgeschritten ist, zeigen die pflichtschuldigen Aufschreie diverser Politikerinnen über die Revision von „Roe versus Wade“ 2022 durch den amerikanischen Obersten Gerichtshof. Wenn eine ÖVP-Jugendstaatssekretärin sich bemüßigt fühlt, das Urteil als „erschreckenden Rückschritt ins Zeitalter der Engelmacherinnen“ zu kommentieren und die ÖVP-Justizministerin tönt, dass Frauen nicht in illegale Abtreibungen gezwungen werden dürften, so dokumentiert dies nicht nur die peinliche Ignoranz der korrekten politisch-juristischen Sachlage, sondern einen eklatanten Mangel an Stil und Standfestigkeit.

Vor allem aber zeigt es die fehlende Verankerung im christlichen Wertesystem, dem sich die ÖVP – zumindest offiziell – immer noch verpflichtet fühlt. Die ÖVP-Menschenrechtssprecherin Gudrun Kugler, regelmäßige Teilnehmerin am „Marsch fürs Leben“ und überzeugte Anwältin des Menschenrechts auf Leben, hat als eine von nur ganz wenigen Politikern den Mut, eine klare Pro-Life-Haltung zu vertreten.

Das ungeborene Kind verschwindet bereits im Diskurs

Auch dieser Beitrag spiegelt die Tragik, dass das Thema fast ausschließlich in Bezug auf die Frau abgehandelt wird; bereits im Diskurs verschwindet das ungeborene Kind, wird auch auf dieser Ebene ausgelöscht. Das Wording zementiert die Verdrängung: Wenn der führende Pro-Choice-Aktivist Österreichs, der Gynäkologe Christian Fiala, systematisch vom „Schwangerschaftsabbruch“ spricht, verschiebt sich der Akzent dessen, was geschieht: denn plötzlich geht es um die Beendigung eines Zustands der Frau, nicht mehr um die Tötung ungeborenen Lebens.

Abtreibung ist ein Entfremdungsphänomen, das nicht nur theoretisch ein klares Defizit der Zustimmung zum Menschsein aufreißt, sondern faktisch die eigene Art und das eigene Kind tötet. Darin bestehen der große Verrat und die entsetzliche Wahrheit unter all den Schichten der Umdeutung.

50 Jahre Fristenregelung in Österreich. Es ist Zeit, hinzusehen. Zeit, Verantwortung zu übernehmen. Zeit, leben zu lassen.

 

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Kommentare

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Kommentar
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Anna Gwechenberger
Vor 4 Monate 4 Wochen

Es ist so erschreckend und bedrückend, wie kann man, wie kann ich Verantwortung übernehmen?

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Prpf. Stickelbroeck
Vor 5 Monate

Vor allem das falsche und heuchlerische Agieren des schwarzen Blocks sollte entlarvt werden.

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Barbara F.
Vor 4 Monate 4 Wochen

Ich finde, "fairändern" leistete in Österreich, was den Lebensschutz betrifft, Großes.
Es ist wichtig sie zu unterstützen!

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Anna Gwechenberger
Vor 4 Monate 4 Wochen

Es ist so erschreckend und bedrückend, wie kann man, wie kann ich Verantwortung übernehmen?

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Prpf. Stickelbroeck
Vor 5 Monate

Vor allem das falsche und heuchlerische Agieren des schwarzen Blocks sollte entlarvt werden.