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Unfassbarer Riss

Wenn das erwachsene Kind den Kontakt zu den Eltern abbricht

Schweigen. Mehr ist da nicht. Keine Anrufe, keine Besuche. Die Tochter hat der Mutter nichts mehr zu sagen. Der Sohn will keinen Kontakt mehr zum Vater. Und das nach 25, 30 oder mehr gemeinsamen Jahren. Doch warum? Klar, es gab Streitereien, Enttäuschungen, Verletzungen, wie es eben in jeder Familie vorkommt. Aber letztlich war alles in Ordnung. War es doch, oder? Für die Eltern ist der plötzliche Kontaktabbruch oft ein Rätsel. Die Entscheidung scheint wie aus heiterem Himmel zu kommen. Nicht so für deren Kinder, die für diesen Schritt meist lange gebraucht haben, aber ganz genau wissen, warum sie ihn gehen. 

Denken wir über Trennungen nach, dann in der Regel über solche zwischen Ehe- oder Geschäftspartnern. Dass Kinder ihre Eltern verlassen, scheint hingegen nicht vorgesehen zu sein. Gesellschaftlich orientieren wir uns an dem christlichen Gebot, Mutter und Vater „zu ehren“.  Und das impliziert, ihnen lebenslang die Treue zu halten. Aber nicht immer sind erwachsene Kinder dazu bereit. Der radikale Bruch mit den Eltern kommt heutzutage häufiger vor, als man denkt. 

Belastbare Zahlen gibt es nicht, zumal der Vorgang mit viel Scham verbunden ist, und das auf beiden Seiten. Wer gibt schon gerne zu, dass die eigene Tochter nichts mehr von einem wissen will? Wer redet schon gerne darüber, dass er mit seiner Mutter seit zig Jahren nicht mehr gesprochen hat?                               

So ziemlich jeder dürfte es kennen, dass man die eigenen Eltern in manchen Situationen am liebsten auf den Mond schießen würde. Dann aber lässt der Schmerz nach und man rauft sich wieder zusammen. Für Kinder, die ihre Eltern verlassen, scheint es hingegen einen Punkt zu geben, an dem es kein Zurück mehr gibt. Sie schaffen es nicht mehr, aufeinander zuzugehen, oder wollen es schlichtweg nicht mehr. Zu viel ist vorgefallen, zu viel, was die Beziehung belastet. 

Der radikale Bruch scheint die einzige Lösung zu sein. Man ahnt, wie tief verwundet sie sich fühlen müssen. Anders gesagt, erwachsene Kinder entscheiden sich, „einfach so“ den Kontakt abzubrechen. Meistens geschieht es erst nach einem langen Ringen mit sich selbst. Nicht selten haben die Kinder alles versucht, um diesen harten Schlussstrich zu vermeiden. Aber irgendwann ging es nicht mehr anders.

Konsequenzen ziehen

Was nur bringt Menschen dazu, mit Mutter und Vater zu brechen? Warum sehen sie keinen Weg mehr, die Verbindung zu halten? Die Gründe sind unterschiedlich und meistens bereits in der Kindheit zu finden. Es gibt Kinder, die bis ins Erwachsenenalter darunter leiden, überbehütet, bedrängt und kontrolliert worden zu sein, andere fühlen sich vernachlässigt, nicht gesehen und nicht wertgeschätzt. Da ist beispielsweise Susanne, 43 Jahre alt, die seit elf Jahren jeden Kontakt zu ihrer Mutter verweigert. 

„Sie hat mir immer das Gefühl gegeben, niemals gut genug zu sein, egal was ich tat, nie konnte ich es ihr recht machen“, erzählt sie, als wir uns in einem Münchner Café treffen. „Ich kann mich an keine Begegnung erinnern, bei der sie mich nicht erniedrigt hat, es tat jedes Mal weh, daran gewöhnt man sich nicht.“ Susanne will anonym bleiben, ihr Vorname ist geändert. Ich kenne sie seit einigen Jahren, aber erst seit kurzem weiß ich, dass sie mit ihrer Mutter nichts mehr zu tun haben will. „Ich hätte das ja gerne hingekriegt mit ihr, aber ich habe es einfach nicht geschafft“, sagt sie. „Es fühlt sich für mich so an, als hätte ich versagt, daher erzähle ich das kaum jemandem.“

Wie viel Demütigung erträgt ein Mensch? In Partnerschaften setzt man – hoffentlich – bald seine Grenzen, wenn der andere zu weit geht. Bei den eigenen Eltern glaubt man hingegen oft, alles ertragen zu müssen. Man sagt sich, so sind sie eben, da muss ich durch. Auch Susanne war davon überzeugt, dass sie die permanente Abwertung durch ihre Mutter hinnehmen müsse. Dann lernte sie ihren heutigen Mann kennen. 

„Das war der Wendepunkt. Er hat mir gezeigt, wie liebenswert ich eigentlich bin und dann erkannte ich so nach und nach, dass ich mir das lieblose Verhalten meiner Mutter viel zu lange gefallen lassen habe“, erzählt sie. Erst habe Susanne versucht, ihr Grenzen zu setzen, doch die seien immer wieder massiv überschritten worden. Dann meldete sie sich immer weniger bei ihrer Mutter und irgendwann gar nicht mehr. „Ich blockte alle Anrufe ab, die in den ersten Monaten noch von ihr kamen, bis heute lasse ich sie nicht an mich ran.“

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Gibt es keine Alternative?

Warum Susanne den Kontakt abgebrochen hat, versteht ihre Mutter vielleicht bis heute nicht. „Ich habe immer wieder versucht, ihr klarzumachen, wie schmerzhaft ihr Verhalten für mich ist, aber sie hat jedes Mal so reagiert, als würde ich übertreiben - sie konnte sich null in mich hineinfühlen.“ Wenig überraschend für Susanne: „So war das schon mein ganzes Leben lang.“ Es gab auch keinen Vater, bei dem sie auf Verständnis und Zuneigung hätte hoffen können; er starb bei einem Autounfall, als Susanne im Grundschulalter war, die Mutter blieb alleinerziehend. 

„Natürlich hat auch meine Mutter ihre Geschichte, warum sie so kalt und abweisend zu mir war, aber auch wenn ich das verstehe, bedeutet das nicht, dass sie so mit mir umgehen darf.“ Der Kontaktabbruch habe ihr Leben erheblich verbessert. Ob sie manchmal trotzdem den Wunsch hat, sich wieder zu versöhnen? „Manchmal schon, aber ich habe große Angst, erneut verletzt zu werden.“ Besser also, es bleibt, wie es ist.

Lässt sich eine Eltern-Kind-Beziehung tatsächlich aufkündigen? Rein faktisch ist freilich nichts daran zu ändern, dass die Mutter immer die Mutter und der Vater immer der Vater bleiben werden. Egal, wie endgültig der Kontaktabbruch auch sein mag. Der übrigens nicht immer von Dauer sein muss. Manchmal braucht es einfach Abstand, um tiefe Verletzungen verarbeiten und sich neu zueinander positionieren zu können. Es ist also nicht so aussichtlos, wie es sich für Eltern nach dem ersten Schock darstellen mag. Zudem haben gerade sie es in der Hand, den Weg zueinander wieder zu ebnen. 

Was hilfreich ist, zeigen unter anderem der Familienberater Sascha Schmidt in seinem Ratgeber „Melde dich mal wieder“ und die Psychotherapeutin Claudia Haarmann in ihrem Buch „Kontaktabbruch in Familien“. Wesentlich ist, die Entscheidung der Kinder nicht für eine Laune zu halten. Nochmal: Der Kontaktabbruch basiert immer auf einer inneren Not der Kinder. Ihm geht ein langer Leidensweg voraus, der Eltern oft nicht bewusst ist. Denn wüssten sie darum, wäre es höchstwahrscheinlich nicht zu der Trennung gekommen.

Alles hat seinen Grund

Die allermeisten Eltern geben immer das, was sie geben können. Und wenn das nicht ausreicht, dann steckt dahinter keine böse Absicht, sondern es gibt einen Grund dafür. So haben verlassene Eltern beispielsweise meist selbst eine belastete Beziehung zu ihren Eltern. Das entschuldigt nicht, das an die eigenen Kinder weitergegeben zu haben. Wenn Eltern sich deshalb in Schuldgefühlen suhlen, macht das die Situation allerdings nicht besser. 

Entscheidend ist die Bereitschaft, sich selbst ehrlich zu reflektieren und sich dabei zu ergründen, warum und wodurch man sein Kind verletzt hat. Dieser Schritt fällt oft schwer, eben weil er mit Schuld und Scham verbunden ist. Doch für eine Annäherung ist er unabdingbar. Kein Kind will zurück zu Eltern, die ihm weiterhin signalisieren, dass sie keine Verantwortung für die Schmerzen übernehmen wollen, die sie verursacht haben. Denn dadurch fühlen sie sich weiterhin nicht ernst genommen.

Egal, wie verzweifelt sich Eltern fühlen, sie sollten auf keinen Fall Druck ausüben oder ständig versuchen, ihr Kind zu kontaktieren. Das schafft nur noch mehr Distanz. Auch sollte man nicht die Enkel dazu benutzen, um an das Kind heranzukommen. Entscheidend ist, die Situation zu akzeptieren, wie sie gerade ist. Wenn das schwerfällt, dann hilft es bisweilen, sich selbst therapeutische Unterstützung zu holen oder eine Selbsthilfegruppe mit anderen betroffenen Eltern zu besuchen. 

Es gilt also, Selbstfürsorge zu betreiben und das Kind nicht mit Vorwürfen und Erwartungen zu belasten. Es muss spüren, dass es die Zeit bekommt, die es braucht. Und zugleich, dass die Eltern bereit sind für ein offenes Gespräch und sich dem Grund für den Kontaktabbruch stellen wollen. Dabei ist wesentlich, nicht auf dem eigenen Standpunkt zu beharren, sondern die Perspektive des Kindes einzunehmen. Wenn Eltern erkennen, dass ihr Verhalten verletzend war, dass sie zu einengend waren oder zu wenig Nähe zugelassen haben, dann öffnet sich die Tür sehr wahrscheinlich wieder. Vielleicht erst mal nur einen Spalt. Aber der Anfang, sich wieder näherzukommen, ist gemacht.

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