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Kolumne „Ein bisschen besser“

Widersprecht uns doch!

„Bist du der Geist, der stets verneint?“, frage ich das Töchterchen. „Ja!“, ruft sie fröhlich. Und meine Frau Judith und ich wissen, dass wir in der Erziehung fast alles richtig gemacht haben.

„Nein“ hören wir derzeit etwa achtmal häufiger als „Ja“, was ich schwer in Ordnung finde, denn Jasager haben wir ja genug, und schließlich ist es genau der Widerspruchsgeist, der die Gabe hervorbringt, zwischen wahr und falsch zu unterscheiden. Sagt Hegel.

Widerspruch zur Wahrheitsfindung

Hegel war einst bei Goethe in Weimar zum Tee eingeladen, und der gute Eckermann hat getreulich mitgeschrieben, was die beiden Großgeister sich zu sagen hatten. „Georg Wilhelm“, so hat Johann Wolfgang demnach laut Eckermanns Notizzetteln auf die These vom Widerspruchsgeist geantwortet, „Georg Wilhelm, wenn nur solche geistigen Künste und Gewandtheiten nicht häufig gemissbraucht und dazu verwendet würden, um das Falsche wahr und das Wahre falsch zu machen!“

So sprach der große Goethe am 18. Oktober 1827, lange also vor Donald Trump, Fake News und halluzinierender KI. Es war prophetisch.

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197 Jahre und acht Monate später summt das Töchterchen „nein-nein-nein“ und bläst dabei die etwa 500 Samen einer Pusteblume fröhlich in die dampfende Küche, während ich beim Spinatwaschen und -würzen eine Dozier-Minute einlege, in der ich Judith erkläre, dass Hegel ganz offenbar den Widerspruch als Element der Wahrheitsfindung betrachtet, während ihm Goethe als Instrument der Wortverdrehung misstraut.

Es ist ein bisschen besser, Frauen nicht zu widersprechen

Doch meine Frau sagt nur, Pusteblumen gehörten nicht in die Küche und in den Spinat gehöre kein Schafskäse. Ihr Tonfall schon erstickt jeden Widerspruch im Keim. 

Gehorsam hole ich den Staubsauger aus der Kammer und packe den Schafskäse zurück in den Kühlschrank. 

Es ist ein bisschen besser, Frauen nicht zu widersprechen, lautet meine Lebenserfahrung, und ich stelle fest, dass der gesamten deutschen Philosophie des 19. Jahrhunderts die weibliche Perspektive völlig abgeht. Hegel, Goethe, Eckermann und wie sie alle heißen: Sie kannten jedenfalls meine Judith nicht.

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