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Kolumne „Der Schweizer Blick“

89 Jahre für nichts

Im Jahr 2061 werde ich 89 Jahre alt sein. Gesetzt den Fall, dass ich dann überhaupt noch lebe, scheint mir eines eher unwahrscheinlich: dass ich nach wie vor geistig klar, eloquent und sprachsicher große Reportagen, Porträts oder Interviews schreibe, als wäre ich in meinen besten Zeiten.

In der Schweiz gibt es aber jemanden, der das schafft. Margrit Sprecher, Jahrgang 1936, ist eine Ikone. Nach der Erstausbildung zur Dolmetscherin wechselte sie in den Journalismus. Ob für eine Frauenzeitschrift, Wochen- und Monatsmagazine oder verschiedene Tageszeitungen, das Publikum und die Branche waren sich stets einig: Diese Frau versteht ihr Handwerk wie kaum sonst jemand.

2003 trat sie offiziell in den Ruhestand – und legte erst richtig los. Viele ihrer Beiträge, oft Reportagen, publiziert von der NZZ bis zu Geo, gelten als Ausnahmestücke. Nie hätte jemand ihre Fähigkeiten, ihr journalistisches Ethos und ihre Integrität und Unbestechlichkeit in Frage gestellt.

Alice Weidel war zu viel

Und nun, mit 89, macht diese Legende des Schweizer Journalismus eine Erfahrung, die ihr nicht zu gönnen ist. Auslöser war ein Artikel in der NZZ am Sonntag. Ein langer, tiefer, berührender und informativer Text. Seit der Erscheinung weiß Margrit Sprecher: Man kann alles nach den Berufsregeln und den geltenden Standards und mit höchster Sorgfalt machen, es kann dennoch „falsch“ sein.

Was sie getan hat? Sie hat Alice Weidel getroffen, mit ihr gesprochen, sie begleitet und ihr zugehört. Es war das erste große, im direkten Austausch entstandene Weidel-Porträt in der Schweiz – und es war zu viel für die anderen Medien.

Was Margrit Sprecher vorher in über 60 Berufsjahren gemacht hatte, galt mit einem Mal nichts mehr. Der Egon-Erwin-Kisch-Preis, den sie einst erhalten hat? Muss wohl ein Fehler gewesen sein. Wie hungrige Wölfe fielen andere Journalisten über Sprecher her. Was sie gemacht habe, wäre „in deutschen Leitmedien“ nicht denkbar gewesen, hieß es an einer Stelle, der Beitrag sei „zum Kotzen“, befand eine linke Wochenzeitung.

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Was Margrit Sprecher über die Begegnung mit der AfD-Co-Chefin schrieb, war zweitrangig. Entscheidend war, dass es diese Begegnung überhaupt gegeben hat. Unisono hieß es: Wie kann man Weidel eine Plattform geben, wie kann man sich auf sie einlassen, wie kann man ihre Gedanken nach außen tragen? Das Entsetzen war mit Händen zu greifen.

Ja, wie kann es sein, dass eine Journalistin einer Person des öffentlichen Interesses zuhört und sie und ihr Weltbild und ihr Privatleben einem Publikum vorstellt? Seit wann ist das die Aufgabe eines Mediums?

Zuhören ohne Wertung

In Wahrheit war das sogar sehr lange die Aufgabe aller Medien. Genau genommen schon immer. Und Margrit Sprecher hat zeit ihres Lebens nichts anderes gemacht als das. Auch dieses Mal wieder. 

Nicht sie hat sich verändert. Die Welt um sie herum hat es getan.

Der Text über Alice Weidel ist weder unkritisch noch anbiedernd noch politische Propaganda. Ihr „Verbrechen“ liegt wohl darin, dass sie auf jede Dämonisierung verzichtet. Wir erleben die AfD-Politikerin im Originalton, ohne wertende Zwischenrufe. Das war zu viel für die Medienmeute, die nicht damit leben kann, den „Gegner“ zu Wort kommen zu lassen, ohne dem Leser gleich selbst mitzuteilen, was davon zu halten ist. 

Einige Monate nach Erscheinen im Januar, vor den deutschen Bundestagswahlen, in deren Kontext das Porträt gehört, hat Margrit Sprecher nun ihr Schweigen über die Vorgänge im Magazin Schweizer Journalist gebrochen und spricht darüber, wie sich die geballte Reaktion auf sie auswirkte. Es habe sie erstaunt, „wie blitzschnell ich meinen Ruf als seriöse Journalistin los war“, gibt sie dort zu Protokoll.

Unerträgliche Arroganz

Die Verwunderung ist begreiflich, denn sie hatte alles gemacht wie immer in ihrem langen Berufsleben. Und vermutlich hatte sie sich, als sie die Idee hatte, Alice Weidel zu porträtieren, einfach von ihrem Instinkt leiten lassen, der ihr sagte: Warum reden alle über diese Frau – aber keiner mit ihr? Dieser Instinkt hat sie jahrzehntelang erfolgreich von Story zu Story geführt. Aber sie musste erfahren, dass das, was sie durch ein langes und erfolgreiches Berufsleben geführt hat, plötzlich keine Gültigkeit mehr haben soll.

Das Ergebnis: Journalisten, die ihrer ursprünglichen Arbeit nicht mehr nachgehen, die ihr eigenes Weltbild und ihre Vorlieben in den Vordergrund stellen und den Lesern nur das präsentieren, was ihnen selbst gefällt, stellen sich über das wohl größte noch lebende Symbol für Qualitätsjournalismus in der Schweiz.

Darin liegt eine unerträgliche Arroganz und vor allem auch eine Geringschätzung der Leser, die ein Recht darauf haben, sich selbst ein Bild zu machen. Von den Leuten, die Margrit Sprechers tadellose Arbeit kritisieren, erhalten sie ganz etwas anderes: eine nach deren Gutdünken gefilterte Version der Welt.

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