Direkt zum Inhalt
Buchbesprechung

„Leonie“: Verloren im Dschungel der Optionen

Wer liebt sie nicht – die Freiheit, tun und lassen zu können, was man will? Wer möchte nicht das Leben auf eigenen Plänen, Wünschen und Vorstellungen aufbauen? Für wen sind Selbstverwirklichung und Selbstbestimmung keine hohen Ideale? Und wann ist dieser Wunsch nach Entfaltung, nach dem Werden und Entdecken seiner selbst, nach dem Ausloten seiner Fähigkeiten, Grenzen und Möglichkeiten stärker als in unbeschwerten Jugendjahren?! 

Leonie, die Protagonistin des gleichnamigen Romans, ist in dieser besten und intensivsten Phase ihres Lebens. Mit Mitte 20 hat sie gerade ihr Jura-Studium erfolgreich beendet und genießt die freie Zeit, die ihr das Leben zwischen Uni und dem schon zugesagten und aussichtsreichen Job offensichtlich vergönnt. Das Glück ist ihr hold, die augenblickliche Freiheit grenzenlos, Zukunft und Karriere vielversprechend. Die Welt scheint ihr zu Füßen zu liegen.

Und: Leonie hat Zeit – für sich, für ihre besten Freunde, für Cappuccino in beliebten Salzburger Cafés, für kurze Plauschs und tiefsinnige Gespräche – und für die vielen Fragen, die manchmal machtvoll in ihr aufbrechen. Welches Leben will sie führen? Mit oder ohne Kinder und feste Partnerschaft? Ein Leben für die Familie oder für die Karriere? Bedeutet Familie nicht totale Einschränkung und Selbstaufgabe? Verspricht Karriere dagegen nicht ideale Entfaltungsmöglichkeiten?

Von Freiheit, Liebe und Glück

Wenn Leonie von den großen Fragen des Lebens umgetrieben wird, spricht sie am liebsten mit Gertrud, ihrer Großmutter und Seelenverwandten. Gertrud war in ihrer Jugend früh von zu Hause weg nach Paris gezogen – in die Stadt der Liebe, in der sie ihre Freiheit und ihre Sehnsucht nach Liebe völlig ausleben wollte und konnte. Für Leonie nachahmenswert. Für Gertrud mit Erfahrungen und Entscheidungen verbunden, über die sie jetzt im Alter Scham und Schmerz empfindet – und von denen sie hofft, dass sie Leonie erspart bleiben werden.

Leonies gesamte Familiengeschichte ist geprägt von der Suche nach Glück, von „freier Liebe“, aber auch von Trennung, Verlassenwerden, Einsamkeit und Schmerz. Durch Flashbacks in die Vergangenheit taucht der Leser in diese Geschichte ein, erfährt davon, welche dramatischen Folgen es hat oder haben kann, wenn Freiheit und Selbstbestimmung als Synonyme einseitiger Erfüllung der eigenen Bedürfnisse verstanden werden. Wenn Familien auseinandergerissen und Eltern von ihren Kindern schmerzlich vermisst werden. 

Leonies eigene intensive Suche nach dem, was für sie selbst gut und erfüllend ist, treibt sie schließlich in einem Wiener Nachtclub in die Arme eines fremden Mannes: Leonie wird schwanger – und vom Leben mit einer Tatsache konfrontiert, zu der sie sich wohl oder übel verhalten, auf die sie eine Antwort finden muss. 

Wenn das Leben Antworten verlangt ...

Leonie weiß, dass sie „Optionen“ hat, sie weiß, dass jetzt alles gegen ein Kind spricht, dass ein großartiger Job und vielversprechende Projekte auf sie warten. Und sie weiß um Andreas, den tiefgläubigen, katholischen Salzburger Kinderarzt, den sie, seit sie ihn vor wenigen Wochen das erste Mal sah, trotz aller Unterschiede und Differenzen aufrichtig liebt, an dessen Seite sie sich geborgen fühlt, und der bis zur Ehe auf sie „warten“ will. Vor allem aber weiß Leonie, dass Andreas nicht der Vater ihres Kindes ist.

Doch trotz aller Verstandes-Argumente, die gegen dieses kleine Leben sprechen, und obwohl Leonie davon überzeugt ist, dass man „auch abtreiben kann“, legt sie immer wieder intuitiv die Hände schützend um ihren Bauch.

„Es geht um meinen Körper, um meine Zukunft, um meine Freiheit! Warum? Ich dachte, ich hätte mich schon gegen die Schwangerschaft entschieden, aber es fühlt sich doch nicht richtig an. Mein Verstand kämpft gegen mein Herz.“

Mitten in ihren inneren Kämpfen tut Leonie das, was heute nahezu jede verzweifelte Schwangere tut: Sie geht ins Internet, ruft Webseiten auf, die Frauen wie ihr Hilfe anbieten, und chattet schließlich mit einer Beraterin, die sie zwar nie persönlich gesehen hat, deren Texte und E-Mailantworten ihr aber erstaunlich guttun. Sie spricht mit den Menschen in ihrem Umfeld, sucht Rat, Hilfe, Orientierung.

Sie trennt sich Hals über Kopf von dem nichtsahnenden Andreas, den sie doch eigentlich so sehr liebt – weil sie glaubt, dass ihre Beziehung „so oder so“ keine Zukunft mehr haben kann. Und mitten im Gewirr ihrer Empfindungen stößt sie in einem Restaurant urplötzlich auf Marco, den Vater ihres Kindes, von dem sie bisher nichts, außer seinen Vornamen, wusste.

... und der Mensch sich entscheiden muss

Wie wird Leonie sich entscheiden? Wird sich nun „die Geschichte wiederholen“, wie Großmutter Gertrud im Stillen befürchtet? Oder wird Leonie in ihren jungen Jahren und „durch das Leben“ lernen, dass wahre Selbstverwirklichung nichts gemein hat mit dem Durchsetzen der eigenen Wünsche – im Zweifel sogar um jeden Preis? Dass Selbstbestimmung nicht bedeutet, ausschließlich die eigenen Ziele und Bedürfnisse zur Richtschnur des eigenen Lebens zu machen – egal, ob und wie sehr andere darunter leiden könnten.

Wird Leonie erkennen, dass das menschliche „Selbst“ seine wahre Erfüllung und Vollendung erst dann findet, wenn es durch ein „Du“ wächst und sich entfaltet? Wenn der Mensch sich jemand anderem öffnet und zuwendet? Wenn er Liebe schenkt und sich – um eines anderen willen – hingibt und verschenkt? Wenn er sich selbst vergisst, ohne jede Bedingung liebt und dadurch erst wahrhaft menschlich wird?

> Abonnieren Sie den Corrigenda-Newsletter und erhalten Sie einmal wöchentlich die relevantesten Recherchen und Meinungsbeiträge

Mit „Leonie. Bis die Morgenröte kommt“ legt Maria Schober einen Roman vor, der mit viel Einfühlungsvermögen und Verständnis in das aufgewühlte Herz einer jungen Frau und verzweifelten Schwangeren blicken lässt. Der um die Sorgen, Nöte und die furchtbare Zerrissenheit einer Schwangeren in Not weiß. Der deshalb auch Verständnis schafft für die abertausenden Frauen, die heute ganz real, so wie Leonie, mit sich um eine der größten und schwierigsten Entscheidungen ihres Lebens ringen. 

Die komplexe, aber kurzweilig gehaltene Erzählstruktur nutzt Schober, um die unterschiedlichen Lebensschicksale der Hauptfiguren des Romans vorzustellen. Und sie dienen der Autorin unter anderem, um ein umfassendes Lehrstück zu entfalten. Keine Biografie, kein Schicksal und kein Gespräch der Protagonisten bleibt ungenutzt; alles wird thematisiert. 

Dazu gehören die feministische Bewegung, die Motive der „68er-Revolution“, die Frage nach der Gleichberechtigung der Frau, die Rolle von Männern und Frauen in der Familie, Lebensschutz, Gender-Ideologie, Leihmutterschaft, künstliche Befruchtung sowie die Lehren von Simone de Beauvoir, die philosophischen Ansätze von Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz und Thomas von Aquin.

Diese thematische Breite und Inhaltsschwere wirkt mitunter künstlich hineingezwungen in die eigentlich eher alltäglichen und sich in der Erzählung oft zufällig ergebenden Begegnungen und Situationen, die deshalb streckenweise etwas überfrachtet wirken.

Der ambitionierte Wunsch der Autorin, dem Leser auf Basis der katholischen Morallehre eine klare Orientierung und gute Argumente für die drängenden Fragen unserer Zeit mitzugeben, ist jedenfalls unübersehbar. Es bleibt mit der Autorin zu hoffen, dass dieser Wunsch mit „Leonie“ vielfach in Erfüllung geht.

Maria Schober: „Leonie. Bis die Morgenröte kommt“, Bernardus-Verlag, Aachen 2023, broschiert, 244 S., 15,- Euro

› Kennen Sie schon unseren Corrigenda-Telegram- und WhatsApp-Kanal?

5
Kommentare

Kommentare