Gibt es einen „Genozid an Weißen“ in Südafrika?

Nehmen wir an, Sie sind in einem gemischtrassigen Land aufgewachsen. Ihre ethnische Gruppe hatte einst durch die Regierung die Oberhand und ließ es sich auf Kosten anderer ethnischen Gruppen gutgehen. Nach einer Revolution übernahm die zahlenmäßig stärkere Mehrheit die Macht. Die neuen Regierenden verfolgen gute Absichten, doch viele von ihnen hegen nachvollziehbare Rachegelüste aufgrund historischer Ungerechtigkeiten.
Nach ein bis zwei Amtszeiten wird ein neuer, eher passiver Präsident gewählt, der wenig Sympathie für Ihre Gruppe zeigt. Unter seiner Führung nimmt Radikalität zu, und er toleriert sogar Straftaten gegen Ihre Gemeinschaft. Schleichend werden Gesetze erlassen, die Ihre Gruppe enteignen und diskriminieren. Doch nicht nur Ihre Gruppe ist betroffen; auch andere Minderheiten leiden unter ähnlichen Ungerechtigkeiten.
Ihre Gemeinschaft vernetzt sich erfolgreich und sucht im Ausland Unterstützung. Ihre Lobbyisten erreichen den Präsidenten einer einflussreichen Nation, der sich von der Ungerechtigkeit gegen Ihre Gruppe überzeugen lässt und Ihren Regierungschef mit den Missständen konfrontiert. Dieser Präsident ist jedoch für Übertreibungen und als Reizfigur bekannt. Dieses Risiko war allen bewusst, dennoch haben Ihre Lobbyisten es in Kauf genommen.
Nun berichten internationale Medien über das Anliegen Ihrer Gruppe – allerdings nicht so, wie es Ihre Sippe sich vorgestellt hat. Die Berichte bagatellisieren das Problem, lenken den Fokus auf die Fehler des einflussreichen Präsidenten und seine provokante Art. Doch Ihnen ist das egal, denn Ihre Stimme wird endlich gehört.
Dies spiegelt in etwa das Ereignis wider, das am 21. Mai 2025 im Oval Office stattfand, als US-Präsident Donald Trump den südafrikanischen Präsidenten Cyril Ramaphosa mit den Spannungen in Südafrika konfrontierte. Also explizit mit dem Vorwurf eines Genozids an Weißen.
Ohne Hintergrundwissen über die komplexe Geschichte Südafrikas – insbesondere die Folgen der Apartheid, die Landreformdebatte und die anhaltenden sozioökonomischen Ungleichheiten – ist es für Außenstehende schwer, den Konflikt zu verstehen. Alle Konfliktparteien lassen wesentliche Punkte aus und rücken beinahe ausschließlich ihre eigenen Probleme in den Vordergrund.
Gerade in Zeiten, in denen ausgewogene Berichterstattung weniger Klicks generiert, ist es umso wichtiger, den Kern der Sache zu ergründen, zur Wahrheit vorzustoßen und fehlgeleitete Radikalität zu entschärfen.
Warum ausgerechnet weiße Afrikaner?
Zunächst muss man davon ausgehen, dass Donald Trump den südafrikanischen Staatschef Ramaphosa nicht aus rein humanitären Gründen konfrontierte. Es gibt zahlreiche Beispiele für Genozide und Christenverfolgungen auf dem afrikanischen Kontinent, bei denen vor allem Schwarzafrikaner Opfer sind und oft keine Möglichkeit zur Flucht haben. Hierzu hört man von Trump nichts. Daher stellt sich die Frage, warum ausgerechnet jetzt weiße Farmer in Südafrika in den USA als schutzbedürftige Gruppe gelten und dort Asyl im „Land der unbegrenzten Möglichkeiten“ finden sollen.
Hier kommt AfriForum ins Spiel. AfriForum ist die prominenteste Lobbygruppe für weiße Südafrikaner, einschließlich Farmer. Sie beschreibt sich als vor allem juristische Hilfsorganisation und setzt sich für die Interessen der Afrikaaner ein, insbesondere im Zusammenhang mit Landreformen, Farmangriffe und kulturelle Rechte. Die Organisation zählt je nach Quelle etwa 200.000 bis 300.000 Mitglieder, hauptsächlich Afrikaaner – so werden weiße Südafrikaner genannt.
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Im Mai 2018 reisten AfriForum-CEO Kallie Kriel und sein Stellvertreter Ernst Roets in die USA, um auf die Situation weißer Farmer in Südafrika aufmerksam zu machen. Sie trafen sich mit dem damaligen Nationalen Sicherheitsberater John Bolton und Mitarbeitern von Senator Ted Cruz. Zudem wurde Ernst Roets von Tucker Carlson bei Fox News interviewt, wo er sein Buch „Kill the Boer“ vorstellte, auf Deutsch „Töte den Buren“. Diese Lobbyarbeit führte dazu, dass Trump im August 2018 über „Landenteignungen und Morde an Farmern“ in Südafrika twitterte.
Nun trugen die Bemühungen der Lobbyarbeit erste Früchte: 49 weiße südafrikanische Farmer landeten am 10. Mai 2025 in einem Hangar des Flughafens Dulles bei Washington als anerkannte Flüchtlinge. Laut der Südafrikanischen Handelskammer in den USA haben sich knapp 70.000 Personen über die Bedingungen für eine Auswanderung als Flüchtlinge informiert. Vorausgegangen ist ein Erlass von US-Präsident Donald Trump, der südafrikanischen Farmern eine beschleunigte Staatsbürgerschaft ermöglicht.
Das Zerren um das Narrativ
Der Vorwurf eines Genozids an weißen Farmern in Südafrika wird in den Medien kontrovers diskutiert oder gänzlich abgestritten. Häufig zitierte Statistiken scheinen die Behauptung eines Genozids gemäß der UN-Definition zunächst nicht zu stützen.
Begriffsdefinition Genozid
Gemäß der Völkermordkonvention der Vereinten Nationen vom 9. Dezember 1948 bezeichnet als Genozid Handlungen, die in der Absicht begangen werden, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu vernichten. Dazu gehören:
- Tötung von Mitgliedern der Gruppe;
- Verursachung schwerer körperlicher oder seelischer Schäden an Mitgliedern der Gruppe;
- Vorsätzliche Herbeiführung von Lebensbedingungen, die auf die körperliche Vernichtung der Gruppe abzielen;
- Verhängung von Maßnahmen zur Verhinderung von Geburten innerhalb der Gruppe;
- Zwangsweise Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe.
Der Begriff „Genozid“ ist äußerst ernst zu nehmen und darf nicht fahrlässig verwendet werden, auch nicht von Donald Trump. Die Thematik jedoch als bloße Übertreibung Trumps abzutun, nur weil er einem unsympathisch erscheint, wird ihr nicht gerecht.
Häufig wird eine Statistik der südafrikanischen Polizei, veröffentlicht von der Nachrichtenagentur Reuters, zitiert: 2024 gab es demnach etwa 26.200 Morde in Südafrika, davon nur 44 mit Bezug zu Farmen. Die Hautfarbe oder Ethnie der Opfer wird nicht erfasst. Zum Vergleich: Deutschland verzeichnete im gleichen Zeitraum etwa 200 Morde bei 83,5 Millionen Einwohnern, während Südafrika rund 64 Millionen Einwohner zählt.
Doch anders betrachtet …
Selten wird erwähnt, dass sich die Zahl der kommerziellen Farmen seit 1996 – zwei Jahre nach der Wahl Nelson Mandelas und der Machtübernahme des African National Congress (ANC), der seit 1994 die Regierung stellt – halbiert hat.
Die Zahl der professionellen Farmen sank von etwa 60.000 im Jahr 1996 auf 37.000 im Jahr 2006 und weiter auf rund 30.000–32.000 im Jahr 2016. Die Hauptgründe sind:
- Landreformpolitik
Seit dem Ende der Apartheid 1994 hat die Regierung Landreformen eingeleitet, um historische Ungleichheiten zu beheben. 1994 besaßen weiße Farmer etwa 87 Prozent des landwirtschaftlich genutzten Landes, obwohl Weiße nur 8 bis 9 Prozent der Bevölkerung ausmachen. Programme wie der Restitution of Land Rights Act (1994) und Black Economic Empowerment (BEE) zielen auf die Umverteilung an schwarze Südafrikaner ab. Bis 2019 wurden etwa 10 Prozent des Farmlands umverteilt, was Unsicherheit schuf. Viele weiße Farmer verkauften ihre Betriebe oder gaben auf, da sie Enteignungen ohne Entschädigung fürchteten.
- Politische Rhetorik
Die Debatte um „Landenteignung ohne Entschädigung“, vorangetrieben von der linksradikalen Partei Economic Freedom Fighters (EFF) und Teilen des ANC seit 2018, verstärkte diese Ängste, obwohl die Umsetzung langsam vorankommt. Das Gesetz zur Landenteignung wurde nach einer langen Debatte und mehreren Vorlagen im Parlament am 23. Januar 2025 rechtskräftig, als Präsident Cyril Ramaphosa den „Expropriation Bill“ unterzeichnete.
- Hohe Kriminalität und Farmangriffe
Südafrika verzeichnet zahlreiche brutale Farmangriffe. Laut dem Bauernverband Transvaal Agricultural Union (TAU SA) gab es 2022 etwa 422 Farmangriffe, davon 44 mit Todesfolge. AfriForum schätzt, dass seit 1994 etwa 4.000 weiße Farmer ermordet wurden. Obwohl die Gewalt nicht ausschließlich weiße Farmer betrifft, führt sie zu großer Unsicherheit. Viele Farmer verlassen ihre Betriebe oder migrieren ins Ausland, z. B. in die USA oder nach Australien.
Der nicht zu unterschätzende linksradikale Sumpf
Auch der psychologische Druck ist nicht zu unterschätzen. Immer wieder äußert sich der EFF-Vorsitzende Julius Malema stark polarisierend bis weißenfeindlich. So sagte er einmal unironisch: „Schießt, um zu töten!“
Die EFF, eine linksradikale Partei, hält 39 von 400 Sitze im südafrikanischen Parlament. In ihrem Manifest wird „weißes Kapital“ mehrfach als „Feind“ bezeichnet: „Die EFF-Regierung wird erkennen, dass das Militär nicht der Feind ist, sondern das weiße Monopolkapital.“
Malema scheut keine Konfrontation. Er ist überzeugt, dass Gewalt Teil einer Revolution ist, und äußert dies in einem beiläufigen Ton, als wäre es selbstverständlich. Für solche Aussagen musste er sich bereits verantworten: „Wir haben nicht zum Mord an Weißen aufgerufen, zumindest noch nicht. Für die Zukunft kann ich nichts garantieren.“
Malema gründete die EFF, nachdem er wegen Korruptionsvorwürfen und parteischädigendem Verhalten aus der ANC, der aktuellen Regierungspartei, rausgeschmissen wurde.
Die ANC pflegte während des Widerstands gegen die Apartheid enge Beziehungen zur Sowjetunion. Viele Regierungs- und Militärmitglieder wurden dort ausgebildet. Eine Nähe im Parlament zu marxistisch-leninistischen Ideen, wie Enteignungen zum Wohle der Allgemeinheit, ist daher historisch nachvollziehbar.
Vor dem BRICS-Gipfel in Johannesburg Anfang August 2023 war das polit-mediale Südafrika gespalten wegen eines möglichen Boykotts Russlands. Russland, das wegen eines Haftbefehls gegen Präsident Putin nicht teilnehmen sollte, bezeichnete dies als „Kriegserklärung“. Schließlich wurde Putin per Video zugeschaltet.
Julius Malema sprach vor 100.000 Anhängern im Fußballstadion: „Nicht wir Südafrikaner lehnen Putin ab, sondern der feige Ramaphosa! Wir sind Putin und werden den Imperialismus gegen ihn nie unterstützen!“, zitierte die Frankfurter Rundschau.
Wem soll man glauben
Es lässt sich nicht leugnen, dass weiße Südafrikaner in Teilen der Bevölkerung und durch Gesetze diskriminiert werden. Diskriminierung erschwert das Leben. Gleichzeitig ist nachvollziehbar, warum diese Umkehrsituation entstanden ist. Das marxistische Gedankengut, das durch die Unterstützung gegen die Apartheid in Südafrika Einzug hielt, fördert die Einteilung von Menschen in Klassen, die gegeneinander kämpfen. Es wird Jahrzehnte dauern, bis in diesem Land ein Gefühl der Wiedergutmachung entsteht und alle Menschen als gleichwertig angesehen werden.
Dennoch sollte man die Zahlen einer Regierung, die zweifelhafte, auf Hautfarbe abzielende Gesetze unterstützt, nicht kritiklos übernehmen. Ebenso wenig sollte man Organisationen blind vertrauen, die die Interessen der Bevölkerungsgruppe vertreten, die vor der Apartheid die alleinige Macht hatte. Dieser Konflikt zeigt, wie wichtig unabhängige Organisationen sind, die bei Rassenspannungen verlässliche Daten analysieren und bereitstellen. Die Datenlage bleibt in diesem Fall äußerst komplex.
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Kommentare
Eine Korrektur:
>>Zum Vergleich: Deutschland verzeichnete im gleichen Zeitraum [nämlich dem Jahr 2024] etwa 200 Morde bei 83,5 Millionen Einwohnern.
Also in der polizeilichen Kriminalstatistik lese ich in der Tat von 222 Morden. Dazu kommen aber noch 362 Fälle von Totschlag und 51 Fälle von selbst nach aktueller Rechtslage strafverfolgter Abtreibung. Zu den drei Straftaten kommen dann noch 508 bzw. 1210 bzw. 48 Versuche. (Die Tötung auf Verlangen und fahrlässige Tötung lassen wir, da die Konstellation hier eine andere ist, weg.)
Daß Deutschland nur bei besonderer Schwere das, was in anderen Sprachen murder, homicidium usw. heißt, mit dem Wort "Mord" benennt, führt somit zu einem statistischen Herunterrechnen. Die vernünftige Zahl wäre ca. dreimal so groß; worauf dann nochmal das Dreifache an Versuchen (von denen ich nicht weiß, ob sie in Südafrika mitzählen) kommt. Selbst mit Versuchen wäre es freilich immer noch ganz grob ein Zehntel der südafrikanischen Zahl.
@ Joyce Lopez de Azevedo. Danke für diesen interessanten Bericht und dass Sie sich dieses Themas angenommen haben.
Interessantes Interview zum Thema:
https://www.youtube.com/watch?v=PQGtCbtpS-I