Begeistert von den Leistungen unserer Kultur

Was bietet in Zeiten des Niedergangs Orientierung? Welche Rückbindungen sind möglich, wenn der Glaube schwindet, das eigene Volk verächtlich gemacht wird und ein Riss durch die Verwandtschaft geht? In dem dystopischen Roman „The Giver“ (1993) der US-Schriftstellerin Lois Lowry, der 2014 von Phillip Noyce verfilmt wurde, wird von einer Gesellschaft erzählt, die ihre Kinder abtreibt, keine Familien, sondern nur noch Zweckgemeinschaften kennt, in der es weder ein Bewusstsein für Geschichte noch einen Platz für Gott gibt. Außerhalb der Zivilisation lebt jedoch ein „Hüter der Erinnerung“, welcher in seiner Bibliothek das Wissen früherer Tage aufbewahrt und die Liebe zu einer ehemals blühenden Kultur im Herzen trägt.
Mögen die Friktionen zu unseren Lebzeiten denen einer Dystopie ähneln, so können auch wir einen Hüter der Erinnerung konsultieren, einen Kundschafter im Corpus klassischer Texte und einen Sucher nach dem zeitlos Gültigen: Gerd-Klaus Kaltenbrunner (1939-2011) war ein echter Wächter der Tradition – kaum jemand hat um die Bedeutung und das Vermächtnis unserer Heimat mehr gerungen als er, der sein Leben mit Lesen und Schreiben verbrachte, die umfassendste Taschenbuchreihe gegen den Neomarxismus herausgab, einer der wichtigsten konservativen Köpfe der siebziger bis neunziger Jahre war und schließlich zum Katholizismus rekonvertierte. Sein Leben lang beschäftigte dieser Denker sich mit den Geistesgrößen und Persönlichkeiten unseres Kontinents, denn er war von den Leistungen unserer Kultur begeistert.
Das Desiderat, Kaltenbrunners Aufsätze genuin abendländischer Prägung in einem Band zu präsentieren, wird nun eingelöst: „Abendland“ meint die Heiligung unseres Lebensraumes, das lateinische Christentum, die heilsgeschichtliche Berufung unseres Erdteils, den Okzident, das römisch-katholische Erbe des Mittelalters, den wahren Westen, das eigentliche Europa, den liebenswürdigen Nachhall des Sacrum Imperium.
Heerführer, Apostel, Märtyrer, Mystiker, romantische Reaktionäre, Geistesmenschen
Das erste Portrait im vorliegenden Band beschäftigt sich mit Vergil, welcher den Gründungsmythos der Römer schrieb. Wir lernen die Apostel Jakobus und Johannes kennen: zu dem einen pilgern seit Karl dem Großen bis heute Millionen von Wallfahrern, bei dem anderen handelt es sich um den Seher, welcher auf der Insel Patmos die Apokalypse verfasste. Wir begegnen Perpetua und Pankratius, die als Pars pro toto der frühchristlichen Märtyrer stehen, deren Blut der Samen war, aus denen Glaube und Bekenntnis des Abendlandes erwuchsen.
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Uns werden Heerführer wie Don Juan de Austria und Prinz Eugen von Savoyen vorgestellt, aber auch Mystiker und Gelehrte wie Aurelius Augustinus, Severin von Norikum, Benedikt von Nursia, Anselm von Canterbury, Edigna von Puch, Hildegard von Bingen, Hedwig von Andechs sowie Anna Katharina Emmerick, Romano Guardini und Amadeo von Silva-Tarouca.
Gerd-Klaus Kaltenbrunner entreißt romantische Reaktionäre dem Vergessen (Carl Ludwig von Haller, Friedrich Schlegel, Joseph Görres, Gilbert Keith Chesterton), macht Mahner zugänglich (Friedrich von Spee, Abraham a Santa Clara, Theodor Haecker) und weist auf poetische Geistesmenschen hin (Paul Gerhardt, Ludwig Derleth, Hugo Ball, Dante Alighieri, Jacobus de Voragine). Er ehrt Johannes von Nepomuk als Wahrer des Beichtgeheimnisses, die Schriftsteller Ernest Hello und Heinrich Hansjakob, macht auf den Komponisten Josef Gabriel Rheinberger aufmerksam und erzählt von Anselm Schott, welcher das Messbuch für Laien übersetzte, damit sie der lateinischen Liturgie gesammelter folgen könnten.
Die meisten der hier versammelten Abhandlungen waren bislang nicht in Buchform ediert. Neben den Portraits enthält der Sammelband Aufsätze über die Heiligung des Raumes und der Zeit; ferner denkt Kaltenbrunner über die Hagiografie des Bildes und der Literatur nach. Mit dem Essay „Vom Genius des Abendlandes“ tritt der Autor der Critical Race Theory entgegen und verteidigt die Liebe zum Eigenen.
Auszüge aus: Gerd-Klaus Kaltenbrunner, „Abendland. Geheiligte Kultur, geliebte Heimat“
„Die Heiligen bestimmen nicht nur mit ihren Festen und Gedenktagen den Ablauf der Zeit, sondern prägen mit den nach ihnen benannten Orten – seien es Dörfer, Täler, Passstraßen oder sogar Staaten – auch unsere Orientierung im Raum … Wenn wir aus Lauheit, Feigheit oder schierem Stumpfsinn die Heiligen nicht mehr nennen, anrufen und feiern, dann werden die steinernen Denkmale der auf sie getauften Ortschaften, Städte, Inseln und Bergübergänge sie rühmen und uns beschämen.“ (482)
„Unvergesslich gellt mir in den Ohren wider der verzückte Schrei eines in Rom tagenden ‘Hexensabbats’, der für die Legalisierung der Abtreibung demonstrierte: ‘Zittert, zittert, die Hexen sind zurückgekehrt!’ Die römische Diana war allerdings ausgesprochen kinderfreundlich; sie wurde insbesondere von Schwangeren und Wöchnerinnen sehr verehrt.“ (218)
„Gewalt, Expansion, Imperialismus – dies alles ist weder neu noch typisch europäisch. Neu ist vielmehr etwas anderes. Und dieses Neue bleibt für immer mit der Geistesgeschichte Europas verbunden: die grundsätzliche, entschiedene und totale Absage an Kolonialismus und Ausbeutung anderer Völker und Erdteile. Ob man nun an Bartolomé de las Casas (1474-1566), Francisco de Vitoria (1480-1546), Michel de Montaigne (1533-1592), Hugo Grotius (1583-1645), Jean-Jacques Rousseau (1712-1778), Immanuel Kant (1724-1804), Johann Gottfried Herder (1744-1803), Giuseppe Mazzini (1805-1872), Henri Dunant (1828-1910) und Tomáš G. Masaryk (1850-1937) denkt, an die gegen Sklavenarbeit und Sklavenhandel kämpfenden Dominikaner, Jesuiten, Quäker und Methodisten, an die Erklärung der Menschenrechte – immer begegnen wir Europäern und europäischen Ideen.“ (411)
„Die Benediktsregel ist nicht das Werk eines weltfremden Schwärmers, sondern eines christlichen Realisten, dem jedes utopische Denken fernlag. Ihre Prägung verdankt sie dem Wirklichkeitssinn eines Mannes, der geahnt haben mag, dass der europäischen Mentalität die raue Strenge des orientalischen Eremitentums fremd bleiben würde. Die morgenländischen Väter rezitierten zum Beispiel an einem einzigen Tage den ganzen Psalter; die Mönche Benedikts hingegen begnügten sich damit, ihn innerhalb einer Woche zu beten. Die Mönche des Ostens verwarfen den Genuss des Weines als unvereinbar mit dem klösterlichen Leben; der Abt von Monte Cassino aber gestattet seinen Jüngern das Weintrinken in beschränktem Maße. Dieselbe Großherzigkeit der Auffassung weisen seine Vorschriften in Bezug auf Lebenshaltung, Kleidung, Wochendienst in der Küche und Krankenpflege auf. Der Gesichtspunkt des Maßhaltens prägt die ganze Regel, die dadurch im eigentlichen Sinn des Wortes sich als eine ‘Maß-Regel’ erweist.“ (129)
„Cogitor ergo sum. – ‘Ich werde gedacht, und deshalb bin ich.’ Nur indem Gott mich denkt, weil ich also ein Gedanke Gottes und in seinem Denken bin, bin ich überhaupt und vermag, Gott zu denken. In dem Wort des namenlosen reuigen Schächers, der in der Überlieferung Dismas heißt und im Römischen Martyrologium unter dem Datum des 25. März ausdrücklich erwähnt wird, liegt ein tiefer ontologischer Sinn: Domine, memento mei (Lk 23,42). Würde Er meiner nicht gedenken, so wäre ich überhaupt nicht.“ (141)
„Barock ist die Vorstellung von der Welt als ‘Theater Gottes’, in dem jeder eine Rolle spielt. Wir alle sind nicht bloß Zuschauer, sondern auch handelnde Mitspieler, insofern aber in gewissem Maße Künstler, der eine mehr, der andere weniger. Der Künstler ist der paradigmatische Mensch, er ist am meisten gottebenbildlich. Alles ist Kunst – auch die Liturgie, die Politik, die Liebe, der Krieg. Man kann auch sagen: Alles ist mehr oder minder Spiel, alles Vergängliche ist ein Gleichnis des Unvergänglichen.“ (468)
„Vollendung, Erfüllung, ewige Gegenwart sind nichts anderes als Namen für das, was frühere Weltalter mit dem Wort ‘Himmel’ bezeichnet haben. Wenn es eine Sehnsucht gibt, die durch schlechthin nichts in dieser Welt der Dinge beschwichtigt werden kann, dann ist dies eben ein Indiz dafür, dass wir nicht nur auf dieser Erde zu Hause sind, dass wir uns sozusagen mitten in einem Umzug befinden, dass alle Schönheiten, Güter und Würden des Diesseits möglicherweise Echos, Spiegelungen, Vorahnungen oder Miniaturen höherer und höchster Erfüllung darstellen.“ (174)
Das angezeigte Buch von Gerd-Klaus Kaltenbrunner erscheint am 16. Juni im Renovamen-Verlag, Bad Schmiedeberg.
Gerd-Klaus Kaltenbrunner, „Abendland. Geheiligte Kultur, geliebte Heimat“, Renovamen-Verlag, Bad Schmiedeberg 2025, gebunden, 504 Seiten, 25,- Euro
Kommentare
Danke für den Hinweis und die schönen Zitate. 👌 Wird gekauft.
Werbung für einen Sedisvakantisten!?? Im Ernst? Oder liegt der Wikipedia-Eintrag völlig daneben?
@G.: GKK mag zwar sedisvakantistische Tendenzen gehabt haben, empfing aber von einem Augsburger Diözesanpriester die Sterbesakramente und wurde von ihm beerdigt. In dem Buch, das ab heute vorliegt, ist alles 100% katholisch - dort finden sich KEINE sedisvakantistischen Aussagen. GKK veröffentlichte im Übrigen in der "Tagespost".