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Kolumne „Berliner Luft“

Reife ist das neue Tabu

Es gibt Städte, in denen Altern sichtbar wird. Und es gibt Berlin. Hier ist Jungsein kein Lebensabschnitt, sondern ein Status – einer, der sich erstaunlich hartnäckig hält. Das Erwachsenwerden wird in dieser Stadt nicht verweigert, sondern vertagt. Auf unbestimmte Zeit. Berlin lebt vom Versprechen der ewigen Möglichkeit: Alles kann noch kommen, nichts muss jetzt schon entschieden werden. Man darf hier lange studieren, noch länger suchen – nach sich selbst, nach dem richtigen Leben, nach dem Partner, den man irgendwann vielleicht will. Das klingt nach Freiheit. Und ist es auch. Eine Zeit lang.

Irgendwann jedoch wird diese Freiheit zu bequem und tarnt sich als Offenheit. Die entscheidende Frage lautet dann nicht mehr, wer man werden will, sondern wie lange man so tun kann, als müsse man das noch nicht wissen. Wie lange ist es erlaubt, heranzureifen?

Disneyland für Erwachsene

Berlin ist ein Disneyland für Erwachsene, allerdings ohne klare Öffnungszeiten. Clubs ersetzen Familienrituale, Start-up-Unternehmen simulieren Verantwortung, Beziehungen bleiben „fluid“, Jobs „projektbasiert“. Alles ist reversibel, nichts ist endgültig. Selbst das Scheitern wird ästhetisiert und mit Bedeutung aufgeladen. Man kann in Berlin sehr alt werden, ohne je erwachsen zu wirken. Man trägt Turnschuhe zur Sinnkrise und nennt die eigene Orientierungslosigkeit eine Selbstfindung.

Die Stadt bietet Anonymität. Niemand fragt, wie es weitergeht. Jene klassische Anonymität der Großstadt – einst Zuflucht für jene, die in ihrer Heimat beruflich oder privat versagt hatten, geächtet wurden und einen Neuanfang suchten –, sie ist heute vollkommen entwertet und bis zur Erschöpfung ausgereizt.

Sven Marquardt, *1962, ist ein international bekannter Türsteher des Technoclubs „Berghain“. Außerdem ist er als Fotograf auch Künstler. Diesem jugendlichen Stil eifern viele „Nicht-Künstler“ bis ins hohe Alter nach

Spätpubertät als Lebensmodell

Was früher eine Phase war, ist heute ein Milieu. Spätpubertät hat sich institutionalisiert. Man gründet Kollektive statt Familien, zieht zum fünften Mal um, weil „der Vibe nicht mehr stimmt“, und hält Verantwortung für ein bürgerliches Missverständnis. Fairerweise: Viele reden nur darüber und leben Verantwortung durchaus. Doch das Image hält sich. Berlin galt lange als Hauptstadt der Singles – 2018 war sie das auch. Heute führt diese Statistik eine Stadt an, von der man es nicht erwarten würde: Regensburg.

Die Angst vor dem Ernstfall

Die Spätpubertät ist nicht nur ein Berliner Phänomen, sondern ein gesamtgesellschaftliches. Fragt man ChatGPT nach den ersten Anzeichen einer unreifen Gesellschaft, lauten die Antworten: Entscheidungen gelten als Zumutung, Konflikte werden emotionalisiert, statt ausgehandelt, Lebensentwürfe bleiben grundsätzlich „vorläufig“. All das spiegelt sich in vielen Bereichen unseres Daseins wider: in der Sauberkeit der Straßen, in politischen Entscheidungen, in der mangelnden Wertschätzung treuer Mitarbeiter oder loyaler Freunde – und natürlich in der Königsdisziplin: im Zusammenkommen und Zusammenbleiben.

Als ich für diese Kolumne Mitte 2025 angefragt wurde, schlug die Chefredaktion vor, über das Leben einer alleinstehenden Frau in einer Großstadt zu schreiben. Ich lehnte das Thema ab. Zum einen, weil dieses Klischee längst kein reines Großstadtphänomen mehr ist – Geburtenraten belegen das. Zum anderen wollte ich mich nicht in Empörungen verlieren. Denn was ist eine klassische Single-Dating-Kolumne? Am Ende regt man sich über das andere Geschlecht auf. In diesem Beitrag komme ich dem ursprünglichen Wunsch der Redaktion ein wenig entgegen.

Die folgenden drei Geschichten sind Freundinnen von mir widerfahren. Ähnliche Berichte habe ich – in anderer Form – auch von Männern über Frauen gehört.

Erste Geschichte: Fehlender Ernst

Ein Treffen mit einem Mann aus Südwestdeutschland. Ein Date. Sie lernten sich online kennen. Im Chat schrieb er, dass er sie abholen würde. Er kam nicht mit dem Auto, sondern mit der U-Bahn. Abholen, wie zu Zeiten, als wir 16 waren – nur dass jetzt beide 30 Jahre alt sind.

Sein Outfit: Sporthose, ein lumpiges schwarzes T-Shirt. Sie gingen in ein einfaches Restaurant. Im Vorfeld hatte sie ihn nach seinen Zielen und Vorstellungen gefragt. Er schrieb, er werde bald nach Berlin ziehen, habe bereits eine Wohnung. Im Restaurant kam dann die Korrektur: Er ziehe nur nach Berlin, sollte er einen Job finden. Und wenn er auch die Wohnung bezahlen könne.

Sie war enttäuscht. Nichts stand bei ihm fest. Für sie war das Treffen Zeitverschwendung – genau das, was sie eigentlich vermeiden wollte. Am Ende konnte er nicht einmal das Essen bezahlen. Er hatte kein Bargeld dabei, PayPal funktionierte nicht, Kartenzahlung wurde nicht akzeptiert. Er ließ meine Freundin als „Pfand“ zurück und eilte zum Geldautomaten. Immerhin kam er wieder. Und zahlte. Aus den beiden wurde nichts.

Filmszene aus „Abbitte“ (GB, 2007): Die Handlung spielt 1935 in England. In jener Zeit konnten Beziehungen bereits als modern gelten. Gleichzeitig lebten Mann und Frau in Verantwortung füreinander

Zweite Geschichte: Zeit als Wegwerfware

Sie begann am Valentinstag. Der Mann schrieb meiner Freundin die erste Nachricht, nachdem er zuvor mehrere ihrer Kollegen nach ihrem Kontakt gefragt hatte. Ihr halber Arbeitsplatz wusste von seinem Interesse. Das wirkte ernst. Es folgte eine Kennenlernphase von einem halben Jahr. Das sind sechs Monate, fast eine ganze Schwangerschaft. Am Ende beendete er das Kennenlernen per Chat mit einem einzigen Satz: „Ich fühl’s grad irgendwie nicht.“

Vielleicht war die Freundin nie sein Typ. Vielleicht hat etwas nicht gefallen. Das ist ja alles kein Problem. Aber ein Problem sind Zeit, Worte und die Art und Weise des Abbruchs. Respektlos, kalt, der Mensch als Wegwerfware.

Für meine Freundin war das die erste Erfahrung mit dem, was man landläufig einen „schlechten Mann“ nennt. Dass es nicht passt, ist normal. Aber das „fühlt“ man meist nach ein, zwei, vielleicht drei Wochen – nicht nach einem halben Jahr.

Nachdem sie die Enttäuschung verarbeitet hatte und wusste, dass bereits andere Frauen in seinen Chatfenstern warteten, fragte sie mich: „Wie viel Zeit raubt er anderen Mädchen? Und wie viele sind danach so verletzt, dass sie das Vertrauen in Männer verlieren?“

Der Mann kassierte allerdings eine Ohrfeige für falsche Versprechen und geweckte Hoffnungen – eine Handlung, die in jenen Zeiten normal gewesen wäre, in die Konservative und Neue Rechte so gerne zurückwollen. Doch nicht in Zeiten linker Toleranzkultur. Hier ist sie die Böse, er das Opfer. Die Ohrfeige habe ihn „verletzt“, denn es war ja nur eine „Nichtigkeit“, wie er sie kritisierte. Zeit, Energie, Hoffnung – wertlos in den Augen dieses Kavaliers.

Dritte Geschichte: Flucht aus Verantwortung

Sie übertrifft die ersten beiden um Längen. Eine Freundin erhielt per Chat die Nachricht, „dass er es nicht mehr fühlt“. Dieses „Nicht-mehr-Fühlen“ scheint Konjunktur zu haben. Zuvor hatte er sich einen Monat gar nicht gemeldet, davor gab es mehrere Monate Streit. Dieser Mann war schon lange kein Date mehr, sondern der Vater ihres gemeinsamen Sohnes. Ein Baby. Die Beziehung war zwei Jahre intakt gewesen, inklusive Schwangerschaft. Nach der Geburt begann er, sie für ihre Selbstständigkeit zu kritisieren: Warum sie ein Haus abbezahle. Warum sie arbeiten wolle. Sie könne doch Sozialhilfe beantragen. Sie verstand die Welt nicht mehr. All das hatte er seit Tag eins gewusst.

Nach der Trennung per Chat kehrte er zu seinem ursprünglichen Lebensstil zurück. Jedes Wochenende Clubs, mittwochs Stammtisch mit den Jungs, freitags die Schießbude. Seinen Sohn sieht er nun einmal pro Woche. Dienstags – gemeinsam mit zwei weiteren Kindern, gezeugt mit einer anderen Frau. Der Mann ist in seinen Vierzigern. Seine Nachkommenschaft ist ein Hobby, das sich zwischen Club und „seinen Jungs“ einreiht.

Alle drei Geschichten passierten in Berlin. Doch nicht alle Beteiligten sind Berliner, nicht alle sind Deutsche. Ort und Herkunft sind zweitrangig. Der gemeinsame Nenner ist eine Tugend, die offenbar systematisch erodiert: Ein Mann, ein Wort. Wie eingangs erwähnt, tragen auch Männer gespiegelten Schmerz in sich. An mein eigenes Geschlecht gerichtet würde ich ergänzen: Eine Frau, eine Entscheidung. Liebe Leser, Sie sind dazu eingeladen, Ihre Geschichte oder die eines Freundes in den Kommentaren zu erzählen!

Wer zahlt den Preis für das Recht auf Unreife?

Erwachsenwerden heißt nicht, den Spaß zu verlieren. Es heißt, Entscheidungen nicht ständig rückgängig machen zu wollen. Genau davor scheint man sich zu fürchten: vor Bindung, vor Endgültigkeit, vor Verpflichtung. In Berlin und längst auch anderswo, ob im Job oder im Privaten. Ich dachte früher, die Konservativen, die Neue Rechte sei hier ein Gegenentwurf, ein sicherer Hafen. Ich habe mich – vorerst – geirrt. Auch dort dient „Freiheit“ oft als Synonym für „Angst vor Festlegung“.

Ich beschuldige keine Einzelpersonen, auch wenn mir das oft angekreidet wird. Warum nicht? Gott gab uns den freien Willen. Doch dieser Wille ist fragil, anfällig für Trends, Atmosphären, kurzfristige Befriedigung und vor allem Ablenkungen. Die drei Geschichten sind politischer, als man meinen könnte. Sie sind Sinnbilder einer kinderfeindlichen Gesellschaft, eines verzerrten Umgangs mit Chats, Social Media und Beziehungen, einer Erwartungshaltung, die den Boden der Realität verlassen hat.

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Die Dinge könnten so einfach sein: Man mag sich. Man entscheidet sich. Man hält zusammen. Alles dazwischen scheint ein Eingriff zu sein, der kaum eindringlicher an die Warnungen des britischen Schriftstellers Aldous Huxley erinnern könnte. An seine Warnungen vor der eigenen Versklavung und der Verantwortungslosigkeit. Irgendetwas ist passiert, worauf nur noch der Einzelne Einfluss hat, der Rückgrat besitzt. Alle anderen fügen sich Ängsten, Trends, schlechten Manieren und Wahnvorstellungen. Doch genau so eine Gesellschaft, die aufhört, erwachsen zu sein, riskiert, dass am Ende niemand mehr zuständig sein will. Dieses Ende haben wir längst erreicht. Berlin ist dafür kein Einzelfall, aber ein besonders gut beleuchtetes Beispiel.

Vielleicht ist es an der Zeit, das Erwachsenwerden zu rehabilitieren. Nicht als Spießigkeit, sondern als Fähigkeit. Es muss wieder zählen, sein Wort zu halten und zu seinen Entscheidungen zu stehen. Und wenn es nicht durch Freiwilligkeit kommen wird – wozu wir noch die Chance haben –, dann durch gesellschaftliche Ächtung, wie es einst der Fall war und wieder der Fall sein wird. Denn irgendwann wird diese Frage unausweichlich ihr Comeback erleben: Wie lange darf man jung sein, ohne dafür als Feigling und Tunichtgut verurteilt zu werden?

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