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Kolumne „Berliner Luft“

Links wählen, rechts leben

Meine letzte Kolumne darüber, dass die Männer schuld seien im Sinne der Verantwortung, entfachte bittere Diskussionen. In der Neuen Rechten hört man diesen Satz sehr ungern. Warum? Dort ist man überzeugt, das eigentlich richtige Leben zu führen: konservativ, bürgerlich, stabil. Die wütenden Nachrichten, die eine Woche lang auf meinem Handy aufploppten, klangen alle gleich: „Ey, wir alle wollen Familie! Langfristige Beziehungen! An uns scheitert es nicht. Es scheitert an den Frauen – oder an beiden.“

Zwei Dinge irritierten mich. Erstens diese enorme Rechtfertigungshaltung, obwohl die Kolumne niemanden beleidigt hatte. Zweitens das Alter der Absender. Fast alle waren zwischen 30 und 45 Jahre alt, also in exakt dem Alter, in dem andere längst Familie haben.

Als ich geboren wurde, war mein Vater 28 Jahre und als mein Bruder kam, 35 Jahre alt. Mit jedem zusätzlichen Jahr musste unsere Mutter ihn stärker zum sportlich-abenteuerlichen Teil der Erziehung ermuntern. Rückblickend hatte ich den Daddy-Jackpot. Er schleppte mich sogar auf die Achterbahn mit. „Bist du etwa eine Memme?“, sagte er zu mir, als wäre ich sein Kumpel, nicht seine Tochter. „Natürlich nicht“, sagte ich und zitterte bei den Attraktionen im Freizeitpark. Er war Feuer und Flamme. Mein Bruder profitierte auch davon, aber das Alter machte sich bemerkbar.

Familiengründung ist kein Zufall

Worauf ich hinaus will, ist, dass man eine Familie nicht zufällig gründet. Es ist eine Entscheidung. Ein Projekt. Eine Mutprobe, in der Selbstlosigkeit und Energie eingepreist sind. Wenn mir also einsame Herzen aus der Neuen Rechten schreiben, sie wollten ja Familie gründen, denke ich an eine lesbische Kollegin zurück, die mit ihrer Partnerin über Samenspende ein Kind bekam. Sie wollten nicht nur – sie taten. Und ich denke an meine früheren Kollegen in Nichtregierungsorganisationen zurück. Das waren lauter stabile Familien mit Elternteilen im Alter von 25 bis 45 Jahren, hetero- wie homosexuell. Alle wählten Grüne oder Linke, lebten aber privat wie CDU und AfD. Das war in Prenzlauer Berg. Das ist die Buggy-Hauptstadt und der Kinderwagen-Kiez.

Ein Blick auf einen Spielplatz in Prenzlauer Berg – im Winter, unter der Woche und kurz vor Sonnenuntergang. Im Sommer ist hier die Hölle los

Weniger reden, mehr machen

In all den Jahren, in denen ich Menschen aus der politischen Opposition – nennen wir sie vereinfacht Neue Rechte – kenne, umgaben mich nie so viele Familien wie damals unter den urbanen Linken. Beruflich wie privat. Ich war damals oft in Prenzlauer Berg und bin es durch die Kirche auch heute noch. Dort hat sich nichts verändert. Sonntags sieht der Bäcker aus wie ein Indoor-Kinderspielplatz. Überall krabbelt jemand. Mehr Kindersocken als Erwachsenenschuhe. In der Kirche verteilen sich die Kids auf mehrere Bänke.

Ähnlich sieht es im dekadenten Soho House aus. Zwischen Champagner und Avocado-Toast mit Makrele ist es einer der kinderfreundlichsten Orte, die ich kenne. Kinder gehören dort selbstverständlich zur Glamour-Gesellschaft. Manchmal hat man das Gefühl, dass Beschwerden über Kindergeschrei als kulturelle Ignoranz gelten. Diese Atmosphäre herrscht dort trotz Kaviar im linken Kiez.

Unglaublich, aber wahr: Der Pool des Soho House wird zweimal die Woche zum Kinderparadies und Badespaß für die ganze Familie

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Wir leben offen in Widersprüchen. Prenzlauer Berg inszeniert sich als links, weltoffen, transformativ. Die Realität aber ist, dass es einer der familienstärksten Stadtteile der Republik sein soll. Nirgendwo stehen so viele Kinderwagen vor Altbauten, nirgendwo pendeln Eltern so verlässlich zwischen Bioladen, Kita und Schwimmverein wie dort. An der Wahlurne wird das Kreuz bei Die Linke, Grüne und ein bisschen SPD gesetzt. Im Alltag lebt man Ordnungssinn, Stabilität, Familienorientierung. Die ältesten bürgerlichen Reflexe, die es überhaupt gibt.

Meine Freunde aus dem Kiez

In der Neuen Rechten habe ich eine einzige Familie kennengelernt, die genau dieses Prenzlauer-Berg-Leben lebt. Kirche sonntags, Soho-Club unter der Woche, vier Rucksack-Kinder immer dabei, als Persönlichkeiten respektiert, schon im Säuglingsalter Teil der Gesellschaft. Die Eltern sind in ihren Dreißigern. Politisch heute etwas rechter eingestellt, weil die Umstände – Kritik an Migrationspolitik, an den Kanzlern Friedrich Merz, Olaf Scholz und Angela Merkel – einen automatisch in diese Ecke katapultieren. Aber optisch und kulturell wirken sie wie klassische Grünen-Wähler.

Was ist ihr Geheimnis? Warum schaffen sie, was so viele als konservativ geltende Männer und auch Frauen nur wollen? Man könnte sagen, es liege am Christentum. Dann wären es zwei solcher Familien, die mir bekannt sind. Fein! Aber was ist mit meinen damaligen linken Kollegen, die gar nicht in die Kirche gingen und trotzdem Familien gründeten? Ihr Trick zur Familiengründung ist vermutlich, sich gar nicht so sehr den Kopf darüber zu zerbrechen. Sondern sich einfach dafür zu entscheiden.

Konservativ ist, wer konservativ lebt

Meine persönliche Auffassung ist deshalb: Konservativ ist, wer konservativ lebt – nicht wer konservativ wählt. Und ja, der deutsche Grünen-Wähler mit vier deutschen Kindern lebt oft konservativer als der neurechte Politiker, der keine Frau findet, weil „alle Frauen Grün wählen“. Auch so eine absurde Behauptung, die die wenigen Frauen in der Neuen Rechten regelrecht beleidigt.

Kinderecke in einem Bäcker im linken Kiez. An der Wand eine liebevoll gestaltete Tapete

Mir ist das mittlerweile gleichgültig. Ich danke Gott für das, was ist – und dafür, was nicht ist. Nicht, weil ich keine Familie will. Die Hoffnung stirbt zuletzt, und ich glaube, es gibt in Wirklichkeit kein cooleres Projekt auf dieser Welt als die Erziehung des eigenen Fleisches und Blutes. Als Frau sehe ich mich eher als Managerin einer Familie und nicht als Gründervater, doch das Ergebnis bleibt unumstritten dasselbe.

Deshalb ist die Frage der ausstehenden Familiengründung einer der Gründe, weshalb ich mich ungern als konservativ oder neurechts betitele. Kritik an der Altkanzlerin Angela Merkel, dem Bundesminister des Auswärtigen Amts Johann Wadephul und all den Pappenheimern – oder an der deutschen Politik generell – macht niemanden zu einem Rechten.

Viele aus der Neuen Rechten leben eigentlich das Leben der Linken, eben das, was als links gilt: viel ausgehen und das ausschweifend, teilweise Rauschmittel konsumierend. Sesshaftigkeit, Partnerschaft, Kinder – Fehlanzeige. Und viele Linke leben das Leben der Rechten. Klassische Familien, planbare Biografien, stabile Beziehungen. Klar, es sind nicht die Studenten, die nach Berlin gekommen sind, um Soziologie zu studieren, wie Apollo-News-Chef Max Mannhart sagte. Aber eben die vielen anderen Linken. Die nonkonformistische und gleichzeitig konservative Bobo-Gesellschaft mit der Hafermilch im Bio-Kaffee.

Um fair zu bleiben

Wenn Rechte linke Instabilität kritisieren, klammern sie Bezirke wie Prenzlauer Berg gern aus und suchen sich andere Beispiele. Friedrichshain-Kreuzberg etwa ist ähnlich links, aber sozial weniger stabil. Dort leben mehr Singles, es passieren mehr Wohnungswechsel, es gründen sich weitaus weniger Familien. Berlin-Mitte ist familienfreundlich nur dort, wo das Einkommen fünfstellig ist. Neukölln ist geprägt von einem hohen Migrantenanteil, durch die junge Bevölkerung und die mangelnde Sesshaftigkeit unter den verbliebenen Deutschen oder Europäern. Es waltet die ökonomische Fragilität. Progressiv bedeutet dort Überlebenskampf, nicht Ideologie.

Und die AfD- und CDU-starken Bezirke Marzahn-Hellersdorf, Reinickendorf und Spandau? Sie passen perfekt ins Paradox: Rechte wählen rechts – leben aber links. Denn auch dort ist die Scheidungsrate hoch, viele sind Alleinerziehende, es mangelt an ökonomischer Sicherheit. Weder konservativ noch progressiv, sondern erschöpft.

Je linker das Wahlkreuz, desto bürgerlicher die Lebensführung. Je bunter gewählt wird, desto mehr Sicherheit wird gelebt. Ich finde diese Erkenntnisse nicht traurig, sondern hoffnungsvoll. In jedem Fall sollte man sich weniger von linken TikTokern beeinflussen lassen und mehr von dem, was man analog beobachten kann.

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