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Kolumne „Der Philosoph“

Das Leiden und das Glück

Wie keine andere Zeit des Jahres konfrontiert uns die Karwoche mit dem Leiden: primär natürlich mit dem Leiden Christi, aber abgeleitet eben auch mit unserem eigenen Leiden sowie dem unserer Mitmenschen und Mitgeschöpfe.

Leiden ist in gleich mehrfacher Hinsicht zutiefst rätselhaft. Zunächst einmal lässt sich festhalten, dass das Leiden ein seelisches, bewusstseinsmäßiges Phänomen ist. Daher können auch nur Subjekte leiden. Hinzu kommt: Je höher ausgebildet, je reflektierter die Subjektivität eines Lebewesens ist, desto größer ist auch seine potentielle Leidensfähigkeit.

Schon niedere Tiere empfinden Schmerz, jedoch leiden sie nicht, wie der Mensch leiden kann. Für diesen kann paradoxerweise sogar die Tatsache, dass er ein weitestgehend leidensfreies Leben genießt, zur seelischen Marter durch das Gewissen werden – „Wie kann ich mein Leben genießen, während andere leiden?“

Wie kann trotz Leidens unser Leben gelingen?

Außerdem ist Schmerz nicht gleich Leid. Zumindest körperliche Schmerzen können vom Menschen sogar als angenehm empfunden werden. Dabei muss man nicht einmal an Masochisten denken, außer man zählt prinzipiell auch die Sportler dazu. Schließlich heißt zu trainieren immer auch, sich zumindest ein gewisses Maß an Schmerzen zuzumuten. Sportler wissen: Schmerzen auszuhalten und zu überwinden, kann eine eigentümliche Freude, ja sogar Euphorie auslösen.

Leiden im eigentlichen Sinn will dagegen niemand. Denn zu leiden heißt, dass ein körperlicher oder seelischer Schmerz zur Belastung geworden ist, also zu etwas, das nicht sein soll. „Weh spricht: Vergeh!“ – so lautet daher auch die vielleicht pointierteste Definition des Leidens, wie sie sich in Friedrich Nietzsches „Also sprach Zarathustra“ findet.

Spätestens damit sind wir bei der ethischen Dimension des Leidens angelangt. Ich meine allerdings gar nicht so sehr den offensichtlichen moralischen Imperativ, anderen kein Leid anzutun. Vielmehr denke ich an den Zusammenhang von Leid und Glück, der die Philosophie seit ihren Anfängen beschäftigt. Angesichts der Unvermeidbarkeit des Leidens stellt sich nämlich die Frage, ob und wie überhaupt ein glückliches, das heißt durch und durch gelingendes Leben möglich ist.

Stoische Gleichgültigkeit und „Liebe zum Schicksal“?

Um die Immunisierung des menschlichen Glücks gegen das Leiden bemühten sich in der Antike vor allem die Epikureer und Stoiker. Glück, so der kleinste gemeinsame Nenner dieser Schulen, besteht in der Freiheit von seelischen Erschütterungen. Ob man von körperlichen Schmerzen, Krankheiten oder anderen Schicksalsschlägen heimgesucht wird, darüber habe der Mensch letztlich keine Kontrolle.

Dagegen stünde es ganz in seiner Macht, ob er sich von solchen Ereignissen innerlich aufwühlen und unglücklich machen lasse. Es könne kommen, was wolle: Zum Glück bräuchte es im Grunde nur die bedingungslose Liebe zum Schicksal – den „amor fati“, wie es Nietzsche später formulierte.

In der Tat scheint es klug, Glück und Erfüllung nicht in der Abwesenheit von Leiden zu suchen – etwas, das uns hienieden ohnehin nicht vergönnt ist –, sondern darin, in das richtige innere Verhältnis zum Unvermeidbaren zu kommen.

Und doch ist es überaus zweifelhaft, ob uns eine stoische Gleichgültigkeit gegenüber dem Leiden gelingen kann, solange wir unsere Zuflucht in einem unpersönlichen Abstraktum wie „dem Schicksal“ suchen müssen. Wir sind schließlich Personen und als solche können wir im eigentlichen Sinne des Wortes auch nur Personen lieben.

Warum der menschgewordene Gott für uns gelitten hat

Wenn man die Sache genauer betrachtet, ist die christliche Philosophie daher in Sachen „Leiden und Glück“ viel realistischer. Denn sie kennt einen personalen Gott, der menschliche Gestalt angenommen und für uns gelitten hat. Er hat dies jedoch nicht getan, um uns im Diesseits das Leiden zu ersparen. Der menschgewordene Gott hat vielmehr gelitten, damit wir uns in unserem Leiden mit Ihm vereinen können. Jeder einzelne kann sein ganz persönliches Kreuz auf sich nehmen und Christus im Leiden nachfolgen.

Diese leidensvolle Nachfolge ist dabei zutiefst glücksträchtig, weil in ihr die unendliche Liebe Gottes selbst erlebbar wird. Damit ist auch der Frage, warum ein guter und allmächtiger Gott zulässt, dass seine Geschöpfe leiden, der Boden entzogen.

Simone Weil schrieb einmal: „Die Liebe zu Gott ist rein, wenn Freude und Leiden gleicherweise Dankbarkeit einflößen.“ Die Tatsache, dass es den Ostersonntag nicht ohne den Karfreitag geben kann, erlaubt vielleicht sogar folgende Radikalisierung ihres Satzes: Das Leiden ist das ultimative Tor zur Liebe Gottes, aus der sich die größte Freude speist.

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Roland
Vor 1 Jahr

Jesus, Christus und Maria (etc.) sind Symbole. Alle Aktivitäten dieser Symbole weisen auf das Leben der Menschen hin.

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Roland
Vor 1 Jahr

Jesus, Christus und Maria (etc.) sind Symbole. Alle Aktivitäten dieser Symbole weisen auf das Leben der Menschen hin.