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Weitere Juristen äußern sich

Brosius-Gersdorf irrt: Paragraf 218 muss wegen Koalitionsvertrag nicht geändert werden

Warum die SPD in Umfragen gerade bei 13 bis 15 Prozent dümpelt, was noch einmal unterhalb des historisch schlechtesten Ergebnisses der Bundestagswahl im Februar liegt, zeigt sich an einem aktuellen Beispiel. Statt sich um die akuten Sorgen der Bürger – Lebenshaltungskosten, Migrationskrise, bezahlbarer Wohnraum – zu kümmern, zetteln die Sozialdemokraten einen Streit mit dem christdemokratischen Koalitionspartner an. Diesmal geht es nicht um die Richterwahl – auch wenn die damit zu tun hat –, sondern um einen Passus im Koalitionsvertrag beim Unterpunkt „Versorgungslage bei Schwangerschaftsabbrüchen“.

Wieder einmal versuchen die Sozis die euphemistisch als „Abbruch einer Schwangerschaft“ bezeichnete vorgeburtliche Tötung eines ungeborenen Kindes auszuweiten und zu normalisieren. Die Protagonisten Carmen Wegge und Sonja Eichwede hatten bereits im Winter versucht, einen Gesetzesentwurf zur Legalisierung der Abtreibung durchzuboxen. Sie kämpfen auch jetzt wieder verbissen um den neuesten Abtreibungsvorstoß wie ein Malinois um sein Lieblingsspielzeug.

Den Anstoß dafür gab die Juristin Frauke Brosius-Gersdorf. Nach ihrer gescheiterten Wahl zur Bundesverfassungsrichterin trat sie bei „Markus Lanz“ im ZDF auf und sagte dort, im Koalitionsvertrag sei „eine Ausweitung der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung“ beschlossen worden. Zumindest verstehe sie das so. Und weil das so sei, müsse die Bundesregierung auch gleich die Abtreibung in den ersten zwölf Wochen legalisieren, weil die gesetzlichen Krankenkassen nicht für eine rechtswidrige Leistung zahlen könnten.

Im Koalitionsvertrag steht aber von alldem wörtlich nichts. Tatsächlich einigte sich Schwarz-Rot auf folgende Formulierung:

„Wir erweitern dabei die Kostenübernahme durch die gesetzliche Krankenversicherung über die heutigen Regelungen hinaus.“

SPD-Politiker nehmen Brosius-Gersdorfs Äußerung dankend auf

Was mit „erweitern“ gemeint ist, darüber streiten jetzt die Koalitionspartner. Bislang strecken die Krankenversicherungen in bestimmten Fällen das Geld für die Kosten vor, fordern es dann aber von dem jeweiligen Bundesland zurück.

Die stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, Sonja Eichwede, behauptet:

„Ziel muss es sein, Frauen in der wohl schwierigsten Konfliktsituation zu helfen. (…) Aus diesem Grund haben wir im Koalitionsvertrag auch die Kostenübernahme durch die gesetzliche Krankenversicherung fest vereinbart. Hierfür müssen wir als Gesetzgeber nun alle notwendigen Voraussetzungen schaffen.“

Die SPD-Rechtsexpertin Carmen Wegge, die eine Presseanfrage von Corrigenda dazu unbeantwortet ließ, stößt ins selbe Horn:

„Im Koalitionsvertrag haben wir vereinbart, dass wir die Kostenübernahme von Schwangerschaftsabbrüchen über die aktuelle Regelung hinaus erweitern. Für mich bedeutet das, dass wir diese zu einer Kassenleistung machen wollen. Dafür wäre es tatsächlich erforderlich, den Schwangerschaftsabbruch in der Frühphase zu legalisieren, weil rechtswidrige Eingriffe nicht über die Krankenkassen finanziert werden können. Hier hat Frau Brosius-Gersdorf recht.“

Die Union hat eine andere Interpretation der Formulierung im Regierungspapier. „Bei geringem Einkommen werden die Kosten schon heute von den Bundesländern aus Steuermitteln übernommen. In dem Antragsverfahren sind die Krankenkassen das Scharnier, sie leiten die Anträge an die staatlichen Stellen weiter“, entgegnete Elisabeth Winkelmeier-Becker (CDU). Darauf beziehe sich die Passage im Koalitionsvertrag. „Denkbar ist, dafür die derzeit geltende Einkommensgrenze anzuheben“, pflichtete ihr Bundesgesundheitsministerin Nina Warken (CDU) am Wochenende in der Berliner Morgenpost bei. „Dafür muss der Abtreibungsparagraf 218 nicht geändert werden.“

Hillgruber: „Ausweitung der Kostenübernahme ist verfassungsrechtlich unzulässig“

Christian Hillgruber, Professor für Öffentliches Recht (Bonn): „Indikationslose, nach der Beratungsregelung vorgenommene Abtreibungen können auch nicht legalisiert werden“

Eine Reihe von Juristen stimmt nun der Auffassung der Union zu. Christian Hillgruber, Professor für Öffentliches Recht an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität in Bonn, erklärte gegenüber Corrigenda: Es sei richtig, dass eine Übernahme der Kosten einer Abtreibung durch die gesetzliche Krankenversicherung voraussetze, dass diese rechtmäßig sei, wie das Bundesverfassungsgericht 1993 festgestellt habe. Allerdings:

„Indikationslose, nach der Beratungsregelung vorgenommene Abtreibungen (§ 218a Abs. 1 StGB) können auch nicht legalisiert werden. Nach dem Bundesverfassungsgericht dürfen nämlich Schwangerschaftsabbrüche, die ohne Feststellung einer Indikation nach der Beratungsregelung vorgenommen werden, (...) nicht für gerechtfertigt (nicht rechtswidrig) erklärt werden. Eine Ausweitung der ‘Kostenübernahme’ von Abtreibungen ‘durch die gesetzliche Krankenversicherung über die heutigen Regelungen hinaus’ ist somit nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts verfassungsrechtlich unzulässig.“

Hillgruber gibt zu bedenken, es sei nicht eindeutig, auf was sich die im Koalitionsvertrag genannte Erweiterung der Kostenübernahme beziehe. „Es dürfte aber davon auszugehen sein, dass Union und SPD sich nicht auf ein verfassungsrechtlich unzulässiges Vorhaben einigen wollten und der Koalitionsvertrag insofern verfassungskonform auszulegen ist.“

Medizinrechtler Duttge sieht keine Notwendigkeit für Änderung an Paragraf 218

Auch der Göttinger Jurist Gunnar Duttge vom Institut für Kriminalwissenschaften und Zentrum für Medizinrecht betont, eine Änderung von Paragraf 218 StGB sei nicht zwingend nötig, allerdings argumentiert er auf Corrigenda-Anfrage anders als Hillgruber. Er verweist auf ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1993 (BVerfGE 88, 203 ff.). Darin habe Karlsruhe erklärt, es sehe keinen Widerspruch darin, „am Unrechtscharakter des Abbruchs ohne triftigen Grund festzuhalten und dennoch gleichzeitig eine allgemeine Sicherstellungspflicht zu betonen“.

Diese Frage lässt sich jedoch nicht mit einem apodiktischen Ja oder Nein beantworten. „Vielmehr ist das Problem danach zu beurteilen, ob eine evtl. Gleichstellung mit rechtmäßigen Abbrüchen den prinzipiellen Unrechtscharakter der Tat verschleiert oder ob dies nicht der Fall ist. Das BVerfG verbietet eine solche Gleichstellung nicht prinzipiell“, erläutert Duttge gegenüber diesem Magazin.

Der Göttinger Medizinrechtler Professor Gunnar Duttge: „Schon nach heute vorherrschender Handhabung gibt es bei der solidarischen Finanzierung kein kategorisches Entweder-Oder“

Beim zweiten „Abtreibungsurteil“ 1993 hatte das oberste bundesdeutsche Gericht zwar festgestellt, dass es der verfassungsrechtlichen Schutzpflicht für das Leben entgegensteht, wenn die gesetzliche Krankenversicherung in gleicher Weise bei rechtswidrigen wie bei rechtskonformen Abtreibungen aufkommt. „Zugleich ist es aber eine unbestreitbare Tatsache, dass es seit jeher zu den Aufgaben der Krankenversicherungen zählt, die finanziellen Kosten ärztlicher Eingriffe zu tragen“, betont Duttge.

„Die bisherige Rechtslage würde noch unverständlicher als bisher“

Er erinnert zudem daran, dass die gesetzlichen Krankenkassen bereits jetzt für die Kosten für ärztliche Beratung, die notwendigen Vor- und Nachuntersuchungen (einschließlich aller Heil- und Hilfsmittel) sowie für möglicherweise notwendige Nachbehandlungen ganz oder teilweise aufkommen. Duttge:

„Von hier aus wäre es daher nicht ausgeschlossen, im Lichte eines gewandelten Verständnisses des Schwangerschaftsabbruchs – ohne zugleich § 218a StGB zu verändern – auch § 24b SGB V anders als vor 30 Jahren zu interpretieren. Allerdings sollte nicht übersehen werden, dass ein solcher Schritt die bisherige Rechtslage – ‘tatbestandslos, aber rechtswidrig’ – in der öffentlichen Wahrnehmung noch weiter als bisher unverständlich erscheinen ließe. Das ist aber keine genuine Frage des Rechts, sondern der Gesellschaftspolitik.“

Auf die Frage, wie der Passus im Koalitionsvertrag auch anders verstanden werden könnte, als die SPD-Politiker das behaupten, sagte Duttge zu Corrigenda:

„Schon nach heute vorherrschender Handhabung gibt es bei der solidarischen Finanzierung kein kategorisches Entweder-Oder, sondern es wird je nach Kostenart differenziert. Zu prüfen wäre daher, ob es jenseits der unmittelbar für den Abbruch anfallenden Kosten noch weitere Ursachen für finanzielle Belastungen im Umfeld der Maßnahme gibt, die bislang noch nicht von den gesetzlichen Krankenversicherungen übernommen werden. Dies ist aber letztlich nur Spekulation: Licht ins Dunkel können nur die Verfasser des Koalitionsvertrags bringen.“

Auftragsgutachten stützt Auffassung von Unionsfraktion

Zuvor hatte bereits Gregor Thüsing, Direktor des Instituts für Arbeitsrecht und Recht der Sozialen Sicherheit an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, in einem Auftragsgutachten für die Unionsfraktion festgestellt, dass Paragraf 218 nicht angerührt werden müsse. Der geplanten erweiterten Kostenübernahme vorausgesetzt werden müsse jedoch, dass „die Kostenübernahme nicht den Eindruck erweckt, als handele es sich dabei um einen dem üblichen Risiko gleichkommenden und in diesem Sinne alltäglichen, also der Normalität entsprechenden Vorgang, was [...] auch bei erweiterter Kostenübernahme gewährleistet wäre“, wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) aus dem Gutachten zitiert.

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Überdies müsse die Kostenübernahme vom Staat und nicht von der Krankenkasse getragen werden. Das System der gesetzlichen Krankenversicherung sei eine „Versichertengemeinschaft nur zur Absicherung des Risikos Krankheit“. Eine Übernahme der Kosten durch die Krankenkassen müsse weiterhin „an die besondere Bedürftigkeit der Schwangeren geknüpft werden“. Und diese könne eventuell früher ansetzen als jetzt.

Über die wichtigste Frage diskutieren die Koalitionspartner nicht

Die Bundestagsabgeordnete und Rechtspolitikerin Susanne Hierl (CSU) betonte gegenüber der FAZ, durch die Kostenübernahme von Schwangerschaftsabbrüchen in Sonderfällen werde das „Lebensschutzgebot“ nicht tangiert. „Das Gutachten zeigt klar auf: Eine staatliche Kostenübernahme für Schwangerschaftsabbrüche außerhalb medizinischer oder kriminologischer Indikationen ist nur in eng begrenzten Fällen zulässig – nämlich dort, wo Frauen aus wirtschaftlicher Not der Zugang zur gebotenen ärztlichen Versorgung sonst verschlossen bliebe“, sagte sie gegenüber dem Blatt.

Fraglich ist indes, ob eine Erweiterung überhaupt nötig ist. Derzeit werden die Kosten für eine Abtreibung vom Staat übernommen, wenn die betreffende Frau weniger als 1.500 Euro netto im Monat verdient. Eine 2022 im Zusammenhang mit der ELSA-Studie erhobene Umfrage ergab, dass in weniger als sieben Prozent der Fälle ein Antrag auf Kostenübernahme abgelehnt wurde.

Und auch die weiterhin auf hohem Niveau befindliche Zahl der Abtreibungen legt nicht den Schluss nahe, dass die Abtreibungskosten in Höhe von 350 bis 700 Euro ein Hinderungsgrund sein könnten. Bei mehr als 106.000 Abtreibungen im Jahr, von denen die allermeisten nicht aufgrund einer medizinischen oder kriminologischen Indikation erfolgen, stellt sich überdies die Frage, warum die Bundesregierung statt über Abtreibungskosten nicht darüber diskutiert, wie sie Frauen im Schwangerschaftskonflikt dergestalt unterstützen könnte, dass diese sich für ein Leben mit Kind entscheiden.

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