Direkt zum Inhalt
In schlechter Verfassung?

Warum es keinen guten Grund für die Union gibt, Brosius-Gersdorf zu wählen

Die Union unterschätzt die Dynamik der social-media-getriebenen politischen Kommunikation. Sie unterschätzt die Fähigkeit ihrer Wähler, politische Spielchen zu durchschauen. Und sie unterschätzt den linken Aktivismus.

Hingegen überschätzt sie die eigene Kraft, einen von der Geschichte abgeleiteten Regierungs- bzw. Verwaltungsanspruch der Bundesrepublik Deutschland argumentativ überzeugend darzulegen. Und sie überschätzt die reale Machtposition der SPD.

Die Causa Frauke Brosius-Gersdorf ist nämlich viel mehr als ein Handel zwischen den Koalitionspartnern. Sie ist auch viel mehr als eine Ferda Ataman 2.0. Zur Erinnerung: Die hochumstrittene Migrations-Lobbyisten wurde 2022 trotz Kritik aus der FDP-Bundestagsfraktion schließlich von der FDP als Antidiskriminierungsbeauftragte der Ampel-Regierung mitgetragen.

Denn die Potsdamer Juraprofessorin Brosius-Gersdorf steht für ein Verständnis des Grundgesetzes, das diametral demjenigen entgegensteht, das aus der abendländischen Rechts-, Moral- und Kulturtradition abgeleitet ist.

Brosius-Gersdorf trennt Menschenwürde von Lebensrecht und damit vom Leben. Unter Juristen ist diese Trennung heute zwar Konsens. Doch der Schutz des Lebens, des menschlichen Lebens, ist ureigenste Aufgabe des Staates. Und jeder Mensch ist als Person mit einer Würde ausgestattet, unabhängig von seinen aktuellen Fähigkeiten und seinem körperlichen Zustand, wie der Philosoph Robert Spaemann unentwegt betonte. Der Mensch hat dadurch einen unverfügbaren Eigenwert mit unveräußerlichen Rechten, zu denen auch das Lebensrecht zählt.

Als Merz ja sagt zu Brosius-Gersdorf, klatscht nur die Fraktionsspitze

Dass die Fraktionsführung der Union im Bundestag dazu aufruft, ihre Abgeordnetenkollegen möchten doch am Freitag bitte neben „ihrem“ Kandidaten Günter Spinner die von der SPD vorgeschlagenen Juristen Brosius-Gersdorf und Kaufhold wählen, ist entweder ein Zeichen von mangelnder Kampfbereitschaft oder fataler Kurzsichtigkeit. Oder sogar von beidem.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen externen Inhalt, der den Artikel ergänzt und von der Redaktion empfohlen wird. 

Externer Inhalt
Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.

Als Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) am Mittwoch während der Generaldebatte von der AfD-Abgeordneten Beatrix von Storch konfrontiert wird:

„Ich frage Sie, ob Sie es mit Ihrem Gewissen vereinbaren können, Frau Brosius-Gersdorf zu wählen, für die die Würde eines Menschen nicht gilt, wenn er nicht geboren ist? Frau Brosius-Gersdorf hat gesagt, dass ein Kind, das neun Monate alt ist, zwei Minuten vor der Geburt keine Menschenwürde zukommt. Können Sie es mit Ihrem Gewissen vereinbaren, diese Frau zu wählen, wissend, dass vermutlich diese Dame in Kürze über die Abschaffung des Paragrafen 218 abstimmen wird?“

antwortet Merz lapidar mit „Ja“. Daraufhin bleiben in der Unions-Bundestagsfraktion die Hände ruhig, es klatschen lediglich Abgeordnete aus der Fraktionsführung – sowie die SPD-Fraktion.

Die Gesellschaft ist nicht rot-rot-grün: Verfassungsrichter müssen ein Gespür dafür haben

Es gibt aus Unionssicht außer dem kurzfristigen Machterhalt keine rationalen Gründe für die Wahl einer Juristin, die derart paternalistisch-autoritäre und linksprogressive Maßnahmen nicht nur aus juristischer Sicht für opportun, sondern für geboten hält. Wohl auch deshalb ruft Unionsfraktionschef Jens Spahn am Freitag zwei Stunden vor der Wahl zu einer außerordentlichen Fraktionssitzung. Ziel: Den zahlreich geäußerten Widerstand in der Union zu brechen. Denn wie Corrigenda aus der Fraktion erfuhr, ist der Unmut erheblich.

Wenn selbst jemand wie Andreas Rödder, der ein eher modernes Verständnis von Konservatismus hat, eindringlich vor der Wahl warnt, dann sollten die Unionsabgeordneten wissen, was die Stunde geschlagen hat. „Die Wahl einer solchen Kandidatin als Richterin (und künftigen Vizepräsidentin) des Bundesverfassungsgerichts würde in ihrer politischen Einseitigkeit den Konsens der Mitte außer Kraft setzen“, schrieb Rödder in der Welt. „Diese Wahl ist kein Einzelfall, sondern eine Richtungsentscheidung für die bundesdeutsche Demokratie.“

Das Bundesverfassungsgericht ist die einzige bundesrepublikanische Institution, die ein – noch – über alle politischen Lager hinweg reichendes riesiges Vertrauen genießt. Das Gericht, das in Wirklichkeit auch immer Politik macht, indem es dem Grundgesetz Werte zuspricht, lebt von der gesellschaftlichen Akzeptanz seiner Entscheidungen. Bundesverfassungsrichter müssen ein Gespür dafür haben, welche politische und gesellschaftliche Grundstimmung im Land herrscht.

Rot-Rot-Grün ist 2025 klar abgestraft worden. Von 630 Abgeordneten haben die Wähler im Februar 360 Volksvertreter und damit eine deutliche Mehrheit gewählt, die ganz sicher nicht pro Brosius-Gersdorf ist. Gerade erleben wir eine, wenn auch zögerliche, so doch erfrischende Bewegung hin zu einer breiten Mitte-Rechts-Mehrheit. In manchen Bundesländern kommt Mitte-Rechts in Umfragen auf zwei Drittel der Stimmen.

Brosius-Gersdorf argumentiert eben nicht, wie wohlmeinende Beobachter behaupten, als über den Dingen stehende Jura-Professorin. Sie äußert sich apodiktisch. Sie sagt nicht: Dies oder jenes könne grundgesetzkonform auch so ausgelegt werden. Nein, sie sagt: Das ist heute grundgesetzlich geboten. Punkt.

Als stellvertretende Koordinatorin der für Abtreibung zuständigen „Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung“ war sie maßgeblich verantwortlich für deren Abschlussbericht: In der ersten Phase bis zur zwölften Schwangerschaftswoche solle das Entscheidungsrecht allein der Mutter obliegen, und der Gesetzgeber solle Abtreibung vollständig legalisieren. In der zweiten Phase ungefähr bis zur 22. Woche könne der Gesetzgeber eingreifen, er müsse es aber nicht. In der späten Schwangerschaftsphase, sagte sie bei der Vorstellung der Kommissionsergebnisse, „ist der Schwangerschaftsabbruch grundsätzlich rechtswidrig“, der Gesetzgeber dürfe es „strafrechtlich absichern, muss es aber nicht“.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen externen Inhalt, der den Artikel ergänzt und von der Redaktion empfohlen wird. 

Externer Inhalt
Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.

Ihr Doktorvater war für die Union noch untragbar

Andere Verteidiger argumentieren: Eine Richterin vom Schlage Brosius-Gersdorf stellt die Republik nicht auf den Kopf, schließlich gebe es ja weiterhin vier Richter pro Senat, die von CDU/CSU und FDP vorgeschlagen worden sind. Das ist auf kurze Sicht richtig. Auf lange Sicht aber nicht.

Brosius-Gersdorfs Doktorvater Horst Dreier war 2008 von der SPD als Bundesverfassungsrichter vorgeschlagen worden. Die Union lehnte ihn ab. Grund war Dreiers Auffassung von Menschenwürde, vor allem beim Embryonenschutz, wo er eine radikal liberale Haltung vertrat, aber auch bei der „präventivpolizeilichen Folter“.

Heute, 17 Jahre später, soll Dreiers Schülerin, Brosius-Gersdorf, die ebenfalls in den Raum stellt, nicht jeder Mensch habe Menschenwürde, für die Union tragbar sein? Man kann allein hierbei schon erkennen, wie sehr Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten nach links gerutscht ist.

Die selbstverschuldete schlechte Lage der Union

Die Union kommt aus dieser Sache nicht mehr heil heraus. Entweder sie verprellt ihren Koalitionspartner. Oder ihre Wähler. Der eigentliche Fehler in der Causa Brosius-Gersdorf ist nämlich schon älter. Ansgar Heveling, der Justiziar der Unionsfraktion im Bundestag, hätte seine Fraktion in aller Deutlichkeit darauf aufmerksam machen müssen, welch radikale Person die SPD hier vorschlägt. Doch Heveling ist ein Merkelianer, und er verteidigt Brosius-Gersdorf.

Seit diesem Fehler ist die Union tief in der kommunikativen Defensive. Und alle ihre Argumente für die Wahl sind bei näherem Hinsehen schwach. Zunächst hieß es, man wolle den Koalitionsfrieden mit der SPD wahren. Bloß keine Streiterei, bloß nicht so werden wie die Ampel. Seit Montag heißt es: Wenn wir unsren Kandidaten Günter Spinner durchkriegen wollen, müssen wir die beiden anderen akzeptieren.

› Abonnieren Sie den Corrigenda-Newsletter und erhalten Sie einmal wöchentlich die relevantesten Recherchen und Meinungsbeiträge

Das Argument bezieht sich auf einen Mechanismus, der seit einer Gesetzesänderung 2024 gilt: Wenn binnen drei Monaten nach der Benennung der Kandidaten durch das Bundesverfassungsgericht eine Parlamentskammer sich nicht einig wird, dann kann die andere Kammer die Wahl übernehmen. Die Hälfte der jeweils acht Richter in den beiden Senaten des Bundesverfassungsgerichts wird von Bundestag und Bundesrat gewählt. Beide Kammern können ihre eigenen Kandidaten benennen. Seit 2018 gilt der Verteilungsschlüssel: 3+3+1+1. Drei Richter werden von der Union, drei von der SPD sowie jeweils einer von Grünen und FDP vorgeschlagen.

Gegen Union und Freie Wähler gibt es auch im Bundesrat keine Zweidrittelmehrheit

Die Union, vor allem CSU-Landesgruppenvorsitzender Alexander Hoffmann, behauptet nun:

„Wir haben das Richter-Paket geschnürt, um einen Richter mit einer klar bürgerlichen Weltanschauung nach Karlsruhe zu entsenden. Sollte die Wahl dieses Richter-Pakets im Bundestag scheitern, droht das Gegenteil von dem, was die Kritiker wollen. Denn niemand kann mir die Frage beantworten, wie es über den Bundesrat gelingen soll, noch einen einzigen bürgerlich-konservativen Kandidaten fürs Verfassungsgericht durchzusetzen.“

Doch die Argumentation verfängt nicht. Weder beim Wähler noch bei den eigenen Abgeordneten. Denn auch im Bundesrat gibt es ohne die Stimmen von CDU/CSU und den Freien Wählern keine Zweidrittelmehrheit. Das heißt, die Union kann allzu radikal linke Richter in beiden Parlamentskammern blockieren.

Außerdem: Da das Bundesratsargument erst nach der Nominierung durch den Richterwahlausschuss am Montag im Bundestag angeführt wurde, wirkt es wie eine im Nachhinein gesuchte Erklärung für eine schlechte Entscheidung. Warum hat die Unionsfraktion das nicht vorher erklärt? Und noch viel wichtiger: Warum hat sie der SPD-Fraktion nicht lange, bevor die Personalie via FAZ publik geworden ist, entgegnet: Diese Frau ist für uns als Richter am Bundesverfassungsgericht untragbar?

Das muss die Union intern aufklären. Doch zunächst muss die Devise lauten, Schaden zu begrenzen. Und das kann sie. Genauer gesagt ist dafür noch nicht einmal die Union nötig, es reichen bei vollzähliger Anwesenheit aller Abgeordneten 59 mutige Christdemokraten, die am Freitag mit Nein stimmen.

Die Konkurrenz lauert schon

Ansonsten ist die Union für weitere Wählergruppen, allen voran Christen, untragbar geworden. Bei einer CDU-Mitgliederbefragung aus dem Jahr 2023 gaben 65 Prozent der Christdemokraten an, der Schutz des ungeborenen Lebens sei „besonders wichtig“. Weitere 30 Prozent sagten, dieser sei „auch noch wichtig“, nur fünf Prozent stuften ihn als „weniger wichtig“ ein.

Die Konkurrenz lauert schon. Die AfD-Fraktion hat in einem am Wochenende vorgestellten Strategiepapier Christen (die jetzt noch vorwiegend Union wählen) als Potenzial ausgemacht. Und es wird für die AfD ein Leichtes sein, künftige „progressive“ Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts mit der Wahl Brosius-Gersdorfs durch die Union in Verbindung zu bringen.

Wie sehr die Personalie die Gemüter erhitzt, zeigt eine Petition mit dem Titel „Keine radikale Lebensfeindin ins Bundesverfassungsgericht: Stimmen Sie gegen Frauke Brosius-Gersdorf!“, die Stand Mittwoch 16 Uhr mehr als 100.000 Menschen unterschrieben haben. Das mag zwar für einen Juristen kein Entscheidungskriterium sein, für einen Politiker jedoch schon.

Die Zahl und die Güte der Gründe, gegen Frauke Brosius-Gersdorf zu stimmen, sind für die Union also um einiges größer und gewichtiger als jene, sie unbedingt ins oberste deutsche Gericht zu wählen.

› Kennen Sie schon unseren Corrigenda-Telegram- und WhatsApp-Kanal?

112
2

3
Kommentare

Kommentare