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Menschenwürde und Lebensrecht

Der Dreh- und Angelpunkt ist das Recht auf Leben

Menschenwürde und Recht auf Leben: Begriffe, die schon dem juristischen Laien ein Studierstündchen abfordern, sind für den Juristen erst recht komplex. Genau wie man nicht mal eben „vom Völkerrecht herkommt“, so gilt auch für Verfassungs- und Staatsrecht mit seinen verwinkelten Begriffsgebäuden das Schillersche „Von der Stirne heiß rinnen muss der Schweiß“, um sich hier sichere Orientierung zu erarbeiten. Und nicht umsonst weiß der Volksmund: Zwei Juristen, drei Meinungen.

Das Bundesverfassungsgericht hat 1975 das Recht auf Leben als „vitale Basis der Menschenwürde und Voraussetzungen aller anderen Grundrechte“ (BVerfGE 39, 1 [42]) bezeichnet. Das leuchtet unschwer auch dem Laien ein, denn wer gar nicht erst leben darf, der kann auch andere Grundrechte wie Berufswahl, Freizügigkeit oder Postgeheimnis nicht genießen.

Karlsruhe stützt die staatliche Schutzpflicht auf Art. 1 Abs. 1 GG – das berühmte Leitmotiv unserer Verfassung „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ –, räumt aber ein, dass der Inhalt der staatlichen Schutzpflicht für das ungeborene Leben trotz ihrer normativen Verortung in Art. 1 Abs. 1 GG von Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG bestimmt wird (BVerfGE 88, 203 [251]): „Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit.“

Lebensrecht unter Gesetzesvorbehalt

Das Verhältnis beider Vorschriften hinsichtlich des Schwangerschaftsabbruchs ist nun in der Juristenzunft sehr umstritten – und Befürworter einer Unbedenklichkeit und daher Rechtmäßigkeit von Abtreibungen versuchen, die Menschenwürde wegen ihrer absoluten Geltung aus der Gleichung zu entfernen, damit nur noch Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG bleibt, der deutlich einfacher einzuschränken ist.

Denn anders als der erste Grundgesetzartikel steht das Recht auf Leben und die körperliche Unversehrtheit in Artikel 2 unter Gesetzesvorbehalt und ermöglicht eine Abwägung mit anderen Rechtsgütern. Andernfalls wäre es beispielsweise nicht möglich, dass Polizeibeamte legal Delinquenten niederringen oder auf einen schweren Straftäter zur Gefahrenabwehr schießen, wenn das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit immer und zu jederzeit absolut gelten würde.

Die Richter des Bundesverfassungsgerichts hielten in ihrem zweiten Abtreibungsurteil von 1993 fest, die Menschenwürde komme „schon dem ungeborenen menschlichen Leben zu“. Die in Potsdam lehrende Staatsrechtsprofessorin Frauke Brosius-Gersdorf preschte hingegen mit der Auffassung vor, Menschenwürde und Lebensschutz seien „rechtlich entkoppelt“. So ist es zu lesen im verfassungsrechtlichen Teil des Abschlussberichts der „Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin“ von April 2024, den sie verfasste (Corrigenda berichtete).

Für die SPD ein Plan B

Für die Geltung der Menschenwürdegarantie „erst ab Geburt“ sprächen „gute Gründe“. Für das Umgekehrte, Menschenwürde auch dem noch Ungeborenen zuzuerkennen, fand sie Argumente nur im Konjunktiv, was verwundert, denn sie kennt die einschlägigen Urteile des deutschen Höchstgerichts.

Mit diesem Widerspruch zur ständigen Rechtsprechung Karlsruhes mag sie sich, nebenbei bemerkt, für die SPD als Plan B empfohlen haben. Die Sozialdemokraten wurmt es mächtig, mit ihrem Vorhaben, die Abtreibung zu legalisieren, kurz vor Toresschluss der zurückliegenden Legislaturperiode gescheitert zu sein. ‘Was wir über den Bundestag nicht durchbekommen, regeln wir durch die kalte Küche Karlsruhes’, mögen sich die Sozialdemokraten so trickreich wie undemokratisch gedacht haben: ‘Schicken wir die Frauke ans Gericht, die wird das schon machen!’

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2024 textete Frau Brosius-Gersdorf in ihrem Beitrag für eine Festschrift zu Ehren ihres Doktorvaters, des Rechtsphilosophen Horst Dreier, „die Annahme, dass die Menschenwürde überall gelte, wo menschliches Leben existiert“, sei „ein biologistisch-naturalistischer Fehlschluss“. Ganz so, wie es der Kommentierung Dreiers zu Artikel 1 Satz 1 GG entspricht – jenes Juristen, gegen dessen Wahl zum Bundesverfassungsrichter die Union 2008 noch erfolgreich Sturm lief. Brosius-Gersdorf lobte indessen, bei der Menschenwürde habe Dreier „Meilensteine in der rechtswissenschaftlichen Diskussion gesetzt“.

‘Auf diese Meilensteine können wir bauen’, fingen die SPD-Granden den Ball auf und nominierten Brosius-Gersdorf als Richterin fürs Bundesverfassungsgericht.

Auf beides kann sich das ungeborene Leben berufen!

Nun trifft es zu, dass juristisch versierte Lebensrechtler für den Schutz des ungeborenen Lebens weniger auf dessen Menschenwürde abstellen als vielmehr auf dessen unbedingtes Lebensrecht. Wenn Frau Brosius-Gersdorf im besagten Abschlussbericht der Kommission schreibt:

„Und selbst bei – unterstellter – Annahme von vollwertigem Menschenwürdeschutz für den Embryo/Fetus, gibt es Argumente dafür, dass die Menschenwürdegarantie durch einen Schwangerschaftsabbruch im Regelfall nicht verletzt wäre“,

so reibt sich zwar der Normalbürger bei dem Satz die Augen, nicht aber die Juristen: Denn eine Abtreibung ist regelmäßig kein staatliches Handeln, die Grundrechte aber sind Abwehrrechte der Bürger gegen den Staat, und auch ein „finaler Rettungsschuss“ (gezielter Todesschuss) durch Polizeibeamte etwa verletzt nicht die Menschenwürde des Erschossenen. Das muss man als Normalbürger nicht verstehen, aber die Juristerei ist eben ein ganz eigenes Gebiet.

Richtig ist auch, dass die einschlägigen Grundgesetzartikel – Art. 1 Abs. 1 (Menschenwürde) und Art. 2 Abs. 2 S. 1 (Recht auf Leben) – verschiedene Gewährleistungen sind. Keineswegs spricht das aber dagegen, beide hinsichtlich des persönlichen Schutzbereichs als in Übereinstimmung stehend zu betrachten; der Jurist fremdwörtelt hier mit dem Begriff „koextensiv“.

Das ungeborene Leben kann sich sowohl auf das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit als auch auf die Menschenwürde berufen. Verfassungsrechtlich begründen lässt sich das mit einer Dimension der Gleichheit, die beiden Grundrechten zu entnehmen ist. Die würde es staatlichen Stellen verbieten, „Leben“ oder „Mensch“ nach willkürlichen Kriterien zu definieren.

„SPD hat entsprechende Politik bestellt“

Auf einen ganz anderen Aspekt weist der Geschäftsführer der Juristen-Vereinigung Lebensrecht, Georg Dietlein, im Gespräch mit Corrigenda hin: „Es ist überhaupt kein Problem, dass eine Person eine bestimmte Rechtsmeinung dazu vertritt, welchen Rahmen die Verfassung steckt“, so Dietlein, der auch dem Bundesvorstand des Bundesverbands Lebensrecht angehört und die renommierte Zeitschrift für Lebensrecht (ZfL) mitbetreut.

Für problematisch halte er es vielmehr, „wenn diese Person offen eine Rechtsprechungsänderung des Bundesverfassungsgerichts ankündigt und zumindest zwischen den Zeilen erklärt, dass sie persönlich für eine solche Rechtsprechungsänderung zur Verfügung stünde“. Denn bei der Pressekonferenz zur Vorstellung des Abschlussberichts der Kommission hatte Frau Brosius-Gersdorf auch prophetisch angekündigt: „Diese Entscheidungen würden so, soweit wage ich mich jetzt mal aus dem Fenster, heute nicht mehr getroffen werden“ (bei Minute 20:30). Das sei, so Dietlein, eine „Grenzüberschreitung“.

„Für die Wahl zur Richterin oder zum Richter des Bundesverfassungsgerichts ist bewusst eine Zweidrittelmehrheit erforderlich, weil es sich nicht um eine Frage der Tagespolitik handelt“, erklärte der promovierte Jurist und Rechtsanwalt weiter . „Die Wahl der Mitglieder des Verfassungsgerichts soll nicht – als Frage der einfachen Mehrheit – dem politischen Auf und Ab unterliegen. Es geht immerhin um die Auslegung und den Schutz der Verfassung – ein wesentliches Element einer wehrhaften Demokratie.“

Jurist Georg Dietlein

Mit Frau Brosius-Gersdorf habe es die SPD-Bundestagsfraktion jedoch gewagt, für eine bestimmte politische Frage eine entsprechende „Politik“ beim Bundesverfassungsgericht zu „bestellen“. So etwas wäre ein „Novum“ in der Geschichte der Bundesrepublik.

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