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Kolumne „Der Schweizer Blick“

Die neue Lust an der Not

Wer das Wort „Notrecht“ im Schweizer Rechtswesen sucht, wird nicht fündig. In den Tiefen des parlamentarischen Lexikons ist lediglich die Rede von „Notverordnungen“ und „Notverfügungen“. Sie kommen zum Zug, „um eingetretenen oder unmittelbar drohenden schweren Störungen der öffentlichen Ordnung oder der inneren oder äußeren Sicherheit zu begegnen“.

„Notrecht“ klingt natürlich viel besser. Niemand mag Verordnungen und Verfügungen, Rechte hingegen wollen alle. Nur geht es hier leider nicht um Volksrechte, sondern das pure Gegenteil. Eine kleine Gruppe von Leuten entscheidet über die Tragweite einer drohenden Störung. Was man als echte Notlage einstuft, ist abgesehen von einem Meteoritenhagel oder einem Vulkanausbruch eine ziemlich subjektive Sache. Der Bundesrat – die Landesregierung – kann aber mittels Notrechts das Parlament und das Volk übergehen. Das Argument dafür: Manchmal muss es eben einfach schnell gehen.

Dieses „manchmal“ heißt derzeit: immer öfter. Bei der Rettung des Finanzplatzes Schweiz vor rund zwei Wochen mit der Übernahme der Credit Suisse durch die UBS kam das Notrecht zum Zug – es war eben eilig. Zuvor sah sich der Bundesrat in der Stromkrise genötigt, einen Rettungsschirm für den Energieproduzenten Axpo aufzuspannen – das musste umgehend sein. Sanktionen gegen Russland, der Bau eines Reservekraftwerks – keine Zeit für lange Debatten. Und in der Coronasituation griff die Regierung gleich satte 18 Mal zum Instrument des Notrechts – es ging schließlich um jede Minute.

Die Hemmschwelle der Exekutive liegt ziemlich niedrig

Was für höchste Not gedacht war, wird immer mehr zum Standardinstrument. Mit jedem Mal fühlt sich die Aushebelung der eigentlichen höchsten Gewalt, des Volkes und des von ihm bestellten Parlaments, ein bisschen gewöhnlicher an. Die Macht ballt sich schleichend beim Bundesrat, und er scheint eine Lust an ihr zu entwickeln. Weil kaum je Widerstand aufkommt, ist es auch ein denkbar leichter Weg. Was hindert die Exekutive daran, nach einem Blick in die Tageszeitung eine neue „drohende schwere Störung“ zu entdecken und mal schnell das Notrecht auszurufen? Die Hemmschwelle liegt inzwischen ziemlich tief.

Aber problematisch ist nicht nur die Häufigkeit, sondern auch die Art und Weise, in der das Notrecht durchexerziert wird. Denn es ermöglicht der Regierung zwar, die Verfassungsordnung zu übergehen, aber nicht die Grundrechte, die als „notstandsfest“ definiert sind. Während Corona wurde darauf jedoch keinerlei Rücksicht genommen. Außer natürlich, man versteht eine geordnete schulische Bildung, das ungehinderte Treffen von Menschengruppen und den freien Zugang zu öffentlichen Einrichtungen nicht als Grundrechte.

Zudem ist das Notrecht unantastbar. Man kann auf keiner Ebene dagegen vorgehen, beschlossen ist beschlossen. Eine Initiative fordert inzwischen, dass es künftig möglich ist, die Entscheidung vor dem Bundesgericht anzufechten. Derzeit werden Unterschriften gesammelt, aber es dürfte hartes Brot werden. So konkret sich das Notrecht auswirkt, so technisch ist der Begriff, und wer das Thema Passanten auf der Straße näherbringen muss, ist nicht zu beneiden.

Die direkte Demokratie wird ein ums andere Mal unterlaufen

Viel einfacher als dieser Weg wäre es, wenn die Leute, die das Notrecht in der Hand haben, zu einem umsichtigen Umgang mit dieser Ultima Ratio zurückfinden würden. Wer mit Sprache arbeitet, weiß: Wer alles betont, betont im Grunde nichts. Übertragen auf das Notrecht: Wer dauernd den Ausnahmezustand ausruft, macht diesen langfristig zur Nebensache, die keinen kümmert. Außerdem wird ausgeblendet, welche Geister man damit ruft. Mit den Sanktionen gegen Russland beispielsweise hat die Schweiz ihren Status der immerwährenden Neutralität mehr als geritzt. Ein Beschluss solcher Tragweite am Volk vorbei ist entgegen jeder politischen Tradition des Landes.

Die direkte Demokratie wird ad absurdum geführt, wenn sie auf dem Papier besteht und in der Praxis Mal für Mal unterlaufen wird. Dies zudem unter fragwürdigen Vorzeichen. Inwieweit wäre die öffentliche Ordnung im Land schwer gestört worden, wenn man sich Zeit genommen hätte, um die Position gegenüber Russland zu diskutieren?

Die Schweizer gelten allgemein als eher langsam und bedächtig. Das kann bei politischen Entscheidungen gelegentlich frustrieren, weil alles viel Zeit braucht, dafür waren die Resultate in aller Regel breit abgestützt, allgemein verträglich und durchdacht. Das war einmal. Nun hat der Bundesrat den Turbo gezündet, und er sitzt allein am Steuer. Dem Volk auf den hinteren Plätzen bleibt nur, mit offenem Mund zuzusehen, wie der Wagen Richtung Abgrund fährt.

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