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Kolumne „Der Schweizer Blick“

Schweizer Zahlensalat

Georges-Simon Ulrich hat es nicht leicht. Ihm dürfen keine Fehler unterlaufen. Ulrich ist Direktor des Schweizer Bundesamts für Statistik. Fast alles, was sich im Land irgendwie zählen und vergleichend abbilden lässt, wird hier verarbeitet und präsentiert. Diese Zahlen sind die Grundlage für politische Entscheidungen. Stimmen sie nicht, tun es auch diese Entscheidungen nicht.

Aber wir sprechen hier ja von der Schweiz, diesem Zentrum der Zuverlässigkeit. „Wie ein Schweizer Uhrwerk“ funktioniere etwas, sagt man, wenn man ausdrücken will: Genauer und verlässlicher geht es nicht. Es ist ein schönes Kompliment. Noch schöner wäre es, wenn es stimmen würde.

Denn das Bundesamt für Statistik hat in jüngerer Zeit Mühe mit seiner eigentlichen Kernkompetenz: den Zahlen. Eine Panne folgt der nächsten. Mal ist eine eher von lustiger und unterhaltsamer Sorte, mal geht es mit dem Fehler richtig ans Eingemachte. Aber abseits davon fragen sich derzeit viele Schweizer: Können wir unseren eigenen Statistikern noch glauben?

Überfordert beim Addieren

Besonders viele Wellen warf die Serie Ende Oktober 2023, als die Schweiz ihr neues Bundesparlament wählte. Am Abend eines langen Sonntags bekam das Land über die Medien das Resultat geliefert. Danach vergingen allerdings weitere drei Tage, bis das korrekte Ergebnis feststand. Die unmittelbar nach dem Wahlende publizierten Stimmenanteile der einzelnen Parteien waren falsch gewesen. Zugewinne waren überhöht dargestellt worden, trauernde scheinbare Verlierer hatten in Wahrheit besser abgeschnitten.

Die Zahlen, welche die 26 Kantone nach Bern geschickt hatten, waren korrekt gewesen. Der Fehler wurde erst beim Bundesamt für Statistik produziert. 735 Mitarbeiter konnten nicht verhindern, dass in den ersten Tagen nach der Wahl ein Resultat hitzig diskutiert wurde, das gar nicht korrekt war. Ein fehlerhaftes Skript sei schuld gewesen, hieß es danach. Aber auch Computercodes fallen nicht vom Himmel. Irgendjemand programmiert sie.

„Die Verrechner vom Dienst“ nannte die Zeitung Blick die Bundesstatistiker damals und führte weitere Fehlleistungen auf, die zum Teil 30 Jahre zurückliegen. Der eingangs erwähnte Direktor Ulrich ist erst seit 2013 im Dienst und kann nicht für Ereignisse 1992 verantwortlich gemacht werden. Allerdings reicht auch schon, was sich in seiner Amtszeit anhäuft.

Um ein paar Milliarden verhauen

Der einzige „Trost“: Ulrichs Bundesamt ist nicht das einzige, das sich einen Taschenrechner zulegen sollte. Auch das Bundesamt für Sozialversicherungen bekundet Mühe mit den Zahlen. Und das in einem weit schwerwiegenderen Fall.

 

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Die Alters- und Hinterbliebenenversicherung (AHV) als tragendes Element für die Vorsorge der Schweizer ist ein Dauerthema. Wie lässt sie sich langfristig finanzieren, wie tragfähig ist sie? Die Menschen werden immer älter, entsprechend erhalten immer mehr Geld von der AHV. Deshalb benötigt man möglichst exakte Prognosen für die Planung: Was kostet uns das Sozialwerk in x Jahren? Danach muss sich die Politik ausrichten.

2033 wird die AHV ein Defizit von 7,3 Milliarden Franken „erwirtschaften“, hieß es bisher. Vor wenigen Tagen musste diese Zahl korrigiert werden. Der Ausgabenüberschuss betrage nur vier Milliarden Franken. Wieder war es die böse Technik: Bei den Schätzmodellen hatten sich zwei falsche Berechnungsformeln eingeschlichen. Wobei man sich bei der Größenordnung von vier auf 7,3 Milliarden fragen muss, ob schlichtes Nachdenken nicht zu Zweifeln hätte führen müssen.

Falsch informiert zur Abstimmung

Wer das nun für eine reine Zahlen-Jonglage und damit eher irrelevant hält, irrt. Zur AHV werden die Schweizer immer mal wieder an die Abstimmungsurne gerufen. Im September 2022 sagte eine Mehrheit Ja zu einer Erhöhung des Rentenalters von Frauen auf 65 Jahre. Viele Befürworter ließen sich dabei von den schlechten Aussichten der Sozialwerk-Finanzen leiten. Nur dass diese eben nicht ganz so schlecht sind, wie alle glaubten – was sich aber erst zwei Jahre später zeigte.

Es liegt eine gewisse Ironie darin, dass eine direkte Demokratie wie die Schweiz unter solchen Fehlern mehr leidet als Staaten, die den Bürger lieber gar nicht erst mitreden lassen. Das Schweizer Stimmvolk geht im sicheren Gefühl an die Abstimmungsurne, sich gut informiert ein Bild der Gesamtlage gemacht zu haben. Wenn allerdings die Basis dieser Information in Form von falschen Prognosen fehlerhaft ist, bleibt jede sorgfältige Auseinandersetzung mit der Materie vergebens.

Wer nun nach personellen Konsequenzen aus solchen Pannen fragt: Die gibt es hierzulande so gut wie nie. Man muss als leitender Bundesbeamter schon die sprichwörtlichen goldenen Löffel klauen, um höflich zum Abgang gebeten zu werden. Ein paar Stufen weiter unten in der Hierarchie reicht schon weit weniger für eine Kündigung. Mehr Macht bedeutet eben nicht zwingend, dass man auch mehr Verantwortung übernehmen muss.

 

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Kommentare

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Peter Stern
Vor 1 Monat 3 Wochen

Bei der AHV zeichnet sich ja die Wende nach den Corona-Jahren nun ab. Ein Blick in die Sterbestatistik zeigt dies schon ohne hochkomplexe mathematische Modelle. Der Impfung sei Dank *Ironie off*

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Peter Stern
Vor 1 Monat 3 Wochen

Bei der AHV zeichnet sich ja die Wende nach den Corona-Jahren nun ab. Ein Blick in die Sterbestatistik zeigt dies schon ohne hochkomplexe mathematische Modelle. Der Impfung sei Dank *Ironie off*