Wo soll die schwarz-rot-goldene Flagge noch einen Platz haben, wenn nicht hier?

Das staatliche Neutralitätsgebot zählt zu den wesentlichen Funktionsbedingungen eines freiheitlich-demokratischen Rechtsstaates. Die Konfliktlinien der (partei-)politischen Neutralität haben in Gestalt der Darstellung politischer Symbole im staatlichen Raum seit geraumer Zeit wiederum eine neuartige Dimension erhalten. Exemplarisch hier die Weigerung Julia Klöckners, während des Berliner „Christopher Street Days“ eine Regenbogenfahne am Reichstagsgebäude hissen zu lassen, was für scharfe Kritik aus dem linken politischen Spektrum gesorgt hat.
Die Entscheidung der Bundestagspräsidentin ist dessen ungeachtet richtig. „Bei uns weht eine Fahne: Schwarz-Rot-Gold“, betont Klöckner deshalb zu Recht. Das einzige staatlicherseits legitimerweise zu unterstützende Symbol von Freiheit und Gleichheit in Deutschland ist die Bundesflagge (Art. 22 Abs. 2 GG). Darum soll hier für die ernsthafte und konsequente Umsetzung des Neutralitätsgebots plädiert werden.
Verfassungsdogmatische Ursprünge
Das Neutralitätsgebot hat im Laufe der Zeit unterschiedliche Ausprägungen erhalten: Besonders relevant ist das Gebot religiös-weltanschaulicher Neutralität geworden, das im Grundgesetz zwar nicht ausdrücklich normiert ist, sich aber der Gesamtschau einer Vielzahl von Einzelvorschriften entnehmen lässt (etwa Art. 3 Abs. 3 S. 1, Art. 4 Abs. 1, 2 GG, Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Weimarer Reichsverfassung [WRV]).
Die gerichtlichen Auseinandersetzungen reichen hier von Kreuzen in Gerichtssälen, Klassenzimmern und (wie seit 2018 in Bayern) im Eingangsbereich von Behörden bis hin zu den mittlerweile altbekannten „Kopftuch-Fällen“, die mittlerweile drei Senatsentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) nach sich gezogen haben und seit Anfang dieses Jahrhunderts fortwährend um neue Konstellationen erweitert werden.
Darüber hinaus kennt das Neutralitätsgebot eine politische Dimension, indem sich staatliche Einrichtungen grundsätzlich der Parteinahme im (tages-)politischen Meinungskampf zu enthalten haben. Dies gilt insbesondere für Verwaltungsbehörden, aber beispielsweise auch für die Bundesregierung – zumindest, soweit sie hierfür amtliche Ressourcen in Anspruch nimmt (zum Beispiel öffentliche Finanzmittel, aber auch ideelle Unterstützung in Form der offiziellen Internetpräsenz).
Willensbildungsprozess des Volkes soll von Obrigkeit unbeeinflusst bleiben
Ursprünglich ging es hier zuallererst um die Stellungnahmen von Repräsentanten des Staates in amtlicher Funktion insbesondere gegen die NPD und heutzutage die AfD. Man denke hier etwa prominent an die Entscheidung des Zweiten Senats aus dem Jahr 2022, die der ehemaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel im Hinblick auf ihre aus Südafrika getätigte Stellungnahme zur Wahl Thomas Kemmerichs zum Thüringer Ministerpräsidenten am 5. Februar 2020 (unter anderem die befremdliche Forderung, „das Ergebnis“ müsse „rückgängig gemacht werden“) einen Verfassungsverstoß attestierte (BVerfGE 162, 207 [247 Rn. 118]).
Das Gebot parteipolitischer Neutralität lässt sich wiederum mit der gebotenen Staatsfreiheit des politischen Willensbildungsprozesses des Volkes begründen. Dieser dem formalen Wahlakt zumeist vorgelagerte, aber eigentlich permanente Prozess soll sich frei und damit von der Obrigkeit unbeeinflusst bilden.
› Abonnieren Sie den Corrigenda-Newsletter und erhalten Sie einmal wöchentlich die relevantesten Recherchen und Meinungsbeiträge
Eine Kontrolle durch den Staat unter Zuhilfenahme seiner Ressourcen stellt, wenn man es in wirtschaftlicher Terminologie ausdrücken will, eine „Wettbewerbsverzerrung“ dar, die einem freiheitlichen Verfassungsstaat grundsätzlich fremd ist. Die Bundesrepublik Deutschland ist schließlich keine „gelenkte Demokratie“.
Relativierungstendenzen in der Gegenwart
Das Neutralitätsgebot ist sowohl in seiner religiös-weltanschaulichen als auch in seiner politischen Ausprägung zwar dem Grunde nach anerkannt. Das hindert indes eine wachsende Zahl von Autoren des rechtswissenschaftlichen Schrifttums und auch Gerichte nicht daran, es fortlaufend zu relativieren. Wortgewaltig ist das Sondervotum der Richterin Astrid Wallrabenstein in der eingangs erwähnten Entscheidung zur Äußerungen Merkels in der Causa Kemmerich (BVerfGE 162, 207 [271 ff.]). Die abweichende Meinung stellt die Reichweite des Neutralitätsgebots für die Bundesregierung generell in Frage, denn diese sei zwangsläufig in die (tages-)politischen Prozesse der Republik eingebunden. Die Restriktion ihrer Äußerungsbefugnisse sei demgegenüber nicht nachvollziehbar und führe zu einer sachwidrigen „Entpolitisierung“ des Regierungshandelns.
› Lesen Sie auch: Interview mit Thomas Kemmerich: „Es gäbe bereits jetzt eine Mehrheit für einen Wiedereinstieg in die Kernenergie“
Dieser – womöglich noch gut vertretbare – Ansatz wird durch eine Entscheidung des Verfassungsgerichtshofes Rheinland-Pfalz flankiert, das in einem ausdrücklichen Aufruf der damaligen Ministerpräsidentin Marie-Luise „Malu“ Dreyer zu einer Demonstration „gegen Rechts“, die sich vor allem gegen die AfD richtete, auf der offiziellen Internetseite der Landesregierung aus dem Januar 2024 keinen Verfassungsverstoß erblickte; zur Legitimation dieser Beeinträchtigung der Partei stellte der Verfassungsgerichtshof auf den Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung ab (Urt. v. 02.04.2025 – VGH O 11/24, Rn. 46 ff.).
Dies mag überraschen, stellt ein solcher Aufruf zu Demonstrationen gegen spezifische Parteien doch ein Paradigma der Verletzung des staatlichen Neutralitätsgebots dar – man rufe sich das Urteil des Bundesverfassungsgerichts in Sachen „Rote Karte für die AfD“ in Erinnerung, in der der Zweite Senat in einem solchen Aufruf der seinerzeitigen Bundesbildungsministerin Johanna Wanka eine Grundgesetzverletzung erblickte (BVerfGE 148, 11 [35 Rn. 67]).
Regenbogenfahne ein Symbol partikularer Interessen, wie ihrer viele sind
Auch provoziert die Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs Rheinland-Pfalz Konfliktpotenziale mit dem Parteienprivileg: Die AfD ist nicht verboten, und ihre (behauptete) Verfassungswidrigkeit darf ihr seitens der Exekutive bis zur rechtskräftigen Feststellung der Voraussetzungen des Art. 21 Abs. 2 GG durch das BVerfG nicht zum Nachteil gereichen. Diese Vorschrift bestimmt, dass „Parteien, die nach ihren Zielen oder nach dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgehen, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden […] verfassungswidrig“ sind und fasst damit die inhaltlichen Voraussetzungen für ein Parteiverbot zusammen.
› Lesen Sie auch: Deutschlands Autoimmunerkrankung und was dagegen hilft
Auch abseits der juristischen Fachwelt mehren sich die Stimmen, die in der Sache eine Uminterpretation und Relativierung des Neutralitätsgebots postulieren. So wird das Hissen der Regenbogenfahne am Reichstagsgebäude oder anderen staatlichen Gebäuden (sogar an der Bayerischen Staatskanzlei!) im linken politischen Spektrum entweder gar nicht unter dem Gesichtspunkt der Neutralität untersucht, sondern bisweilen sogar als geboten erachtet. Das Hissen der Fahne der LGBT-Community soll demnach einen bloßen Akt des „Verfassungsvollzugs“ (Begriff nach Carl Schmitt) darstellen. Dieser Logik zufolge gewährleistet das Grundgesetz schließlich auch die Rechte sexueller Minderheiten, daher entspreche die Fahne schlicht nur dem Normprogramm der Verfassung.
Das ist aber zu kurz gedacht. Zum einen identifizieren sich keineswegs alle homosexuellen Menschen mit der Regenbogenfahne und den mit ihr verbundenen Vorstellungen und Forderungen. Zum anderen bleibt die Fahne ein Symbol partikularer Interessen, das sich nur schwerlich mit der Gemeinwohlorientierung des Staates in Einklang bringen lässt. Es würde wohl kaum jemand auf die Idee kommen, etwa die „Gadsden Flag“ als Symbol des Libertarismus, das Logo der Partei Bündnis ‘90/Die Grünen oder die Flagge des Vatikans als Zeichen des römisch-katholischen Glaubens am Reichstagsgebäude anzubringen.
Die Progress Pride Flag normaler Bildungsinhalt ohne Indoktrinationseffekt?
Die Ideale der Regenbogenfahne sind ein gesellschaftlich-politischer Gestaltungsentwurf, der die durch die Verfassung gezogenen Grenzen im Rahmen des freien Spiels der Kräfte unzweifelhaft nicht überschreitet und folglich legitim ist. Dessen ungeachtet handelt es sich eben nur um ein Gestaltungsideal, das mit anderen, gleichfalls legitimen politischen Anliegen sowie Vorstellungen konkurriert und nicht mit dem gesamtstaatlichen Interesse gleichzusetzen ist.
Noch deutlicher wird dieses Störgefühl mit einem Blickwechsel auf die „Progress Pride Flag“. Dabei handelt es sich um ein Produkt jüngerer Zeit, das maßgeblich auf den ideologischen Unterbau der „kritischen Theorien“ („Wokeness“) zurückgeht und unter dem mittlerweile inhaltsleeren Banner des „Fortschritts“ noch radikalere gesellschaftspolitische Entwürfe symbolisiert, die sich stellenweise nah an der Grenze zur Verfassungswidrigkeit bewegen.

Wenig überzeugend ist daher ein vor wenigen Tagen ergangenes Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin, das ebenjene Fahne zum normalen Bildungsinhalt deklariert (Urt. v. 25. Juni 2025 – VG 3 K 668/24) und – man höre und staune – mangels Indoktrinationseffekts keine Beeinträchtigung des elterlichen Erziehungsrechts (Art. 6 Abs. 2 GG) zu erkennen vermochte. In einem ähnlichen Licht steht ein Beschluss desselben Gerichts im Eilverfahren aus dem Jahr 2023, der die unter Gesichtspunkten der Neutralität vergleichbar prekäre Nutzung „geschlechtergerechter Sprache“ durch Lehrkräfte für unproblematisch hielt (Beschl. v. 24. März 2023 – VG 3 L 24/23).
Eine Flagge symbolisiert die Gleichberechtigung der Lebensentwürfe und Anschauungen
Die einzige offizielle und übergreifende Flagge dieses bundesrepublikanischen Gesamtstaates ist die Bundesflagge (Art. 22 Abs. 2 GG), die daher ihren legitimen Platz am Reichstagsgebäude hat. Diese Flagge symbolisiert bereits die Gleichberechtigung der Lebensentwürfe, der religiösen und eben auch politischen Anschauungen und bedarf schlichtweg keiner Ergänzung durch die symbolhafte Zurschaustellung partikularer Interessen. Der Staat ist aber „Heimstatt aller Staatsbürger“ (BVerfGE 19, 206 [216]) und bedient sich dementsprechend eines umfassenden Legitimationsmodus.
Ebenso wenig, wie die Regenbogenfahne einen Platz am Parlamentsgebäude hat, hat sie etwas auf Polizeiuniformen zu suchen. Befremdlich mutet daher die Praxis der Berliner Polizeibehörden an, ihren Beamten das Tragen der Bundesflagge zu untersagen, zugleich aber die Darstellung der Regenbogenfahne zu befördern und sie sich im Rahmen ihrer Öffentlichkeitsarbeit anzueignen. Die Polizei stellt die Manifestation des staatlichen Gewaltmonopols und der Staatspflicht zur Gewährleistung der inneren Sicherheit dar – mithin eines in der Staatsphilosophie seit jeher zur Legitimation der Existenz des Staates als solchem bemühten Fundamentalgedankens.
Wo soll die schwarz-rot-goldene Flagge noch einen Platz haben, wenn nicht hier? Auch ist dieser staatliche Funktionsbereich angesichts der bisweilen einschneidenden Wirkungen für den Bürger besonders anfällig für Vertrauensstörungen. Machen sich die Sicherheitsbehörden mit partikularen und womöglich sogar lediglich von einer gesellschaftlich-politischen Minderheit geteilten Vorstellungen gemein, schwindet das Vertrauen der ihr gegenüberstehenden Bürger.
Und Ukraine- und Israel-Flaggen?
In den vergangenen Jahren hat es sich daneben zunehmend etabliert, die Hoheitszeichen ausländischer Staaten an öffentlichen Gebäuden zur Schau zu stellen. Dies gilt seit 2022 insbesondere für die ukrainische Nationalflagge, aber gleichermaßen auch für die Flagge des Staates Israel. Unbestritten und aus guten Gründen handelt es sich bei der Sicherheit des jüdischen Staates um die „Staatsräson“ der Bundesrepublik Deutschland, und ebenso sehr verdient der ukrainische Staat die Unterstützung im Kampf gegen den russischen Angriffskrieg. Dabei handelt es sich nichtsdestotrotz um politische Motive, die die verfassungsrechtlichen Anforderungen des Neutralitätsgebots nicht pauschal verdrängen können.
Auch hier gilt folglich, dass in öffentlichen Institutionen und an ihren Gebäuden lediglich Symbole der entsprechenden Hoheitsgewalt (des Bundes, des Landes, der Kommune und ebenfalls der Europäischen Union) einen rechtlich begründbaren Platz haben. Dies gilt insbesondere für klassische Verwaltungsbehörden, die anders als etwa die Gubernative kaum über einen spürbaren Bezug zur Außenpolitik verfügen.
Staatliche Neutralität in Glaubensfragen
Eine ähnliche Bestandsaufnahme ergibt der Perspektivenwechsel vom politischen Meinungskampf in den Bereich der Religion. Auch hier fordern zahllose Stimmen im rechtswissenschaftlichen Schrifttum seit langer Zeit eine Lockerung der Neutralitätsvorgaben. Schon im Zusammenhang mit dem Kopftuch der Lehrerin hat der Erste Senat des BVerfG in seiner Kopftuch-II-Entscheidung aus dem Jahr 2015 die Möglichkeit eines generellen Verbots sichtbarer religiöser Symbole verneint und das Vorliegen einer hinreichend konkreten Gefahr für den Schulfrieden verlangt (BVerfGE 138, 296 [327 Rn. 80]), die Problemlösung damit also auf den Einzelfall verlagert.
Erfreulich ist hingegen die Kopftuch-III-Entscheidung des Zweiten Senats von 2020, die für den besonders sensiblen Hoheitsbereich der Justiz ein pauschales Kopftuchverbot für Rechtsreferendarinnen bei der staatsanwaltlichen Sitzungsvertretung für gerechtfertigt hielt (BVerfGE 153, 1 [46 f. Rn. 102]). Aber auch hier werden die Gegenstimmen stärker: Für Schöffen beteiligt sich die Nichtregierungsorganisation „Gesellschaft für Freiheitsrechte“ an der Anfechtung einer Verbotsvorschrift aus Nordrhein-Westfalen vor dem Bundesverfassungsgericht. Es ist ernsthaft zu befürchten, dass das Gericht hier eine Lockerung der Neutralitätsvorgaben mittragen wird.
› Lesen Sie auch: Deutschlands schwedische Zukunft
Aber auch für Richter postuliert eine wachsende Zahl von Stimmen die ungehemmte Zulassung religiöser Symbolik für Amtsträger – trotz der besonderen Anfälligkeit dieses Hoheitsbereichs für Vertrauensstörungen. Ähnlich verhält es sich für die Polizei, hier sorgte unlängst ein Polizeikommissaranwärter in Bremen für Aufsehen, dem das Tragen seines mit dem Glauben der Sikh begründeten Turbans (Dastar) auch in Uniform gestattet worden war. Ebenfalls in diese Entwicklung reiht sich das Vorhaben des Berliner Senats ein, Lehrerinnen im Unterricht künftig generell das Tragen eines Kopftuchs zu gestatten, das auf die Anforderungen der zuvor genannten Entscheidung des Ersten Senats des BVerfG aus dem Jahr 2015 zurückgeht.
Begründet werden diese Tendenzen häufig mit einer wachsenden Pluralisierung und Fragmentierung der Gesellschaft in religiöser Hinsicht. Hinzu tritt die Forderung nach einer „Abbildung“ gesellschaftlicher „Vielfalt“ auch im staatlich verantworteten Raum. Der Begriff der „Vielfalt“ (oder alternativ und bildungssprachlich: „Diversität“) erfüllt – wie allzu häufig – indes allenfalls die Funktion einer nur auf den ersten Blick überzeugenden, wohl aber ideologisch konnotierten und politisch vereinnahmten Floskel.
Dennoch darf sich der Staat nicht mit dem Christentum gemein machen
Zwar mag dieser Befund zutreffend sein – auch der vormals gesellschaftsprägende und dominierende Einfluss der beiden großen Amtskirchen schwindet unaufhörlich. Diese lässt sich auch nicht künstlich im Wege einer Identifikation des weltlichen Staates mit christlichen Glaubensinhalten aufhalten. Der bayerische „Kreuzerlass“ führt zu einer Profanisierung des Kreuzes, das als Ausdruck des Lebens und Leidens Christi und folglich als das Symbol des christlichen Glaubens schlechthin zu einer bloß kulturellen Schablone degradiert wird.
Aus Sicht eines Christen mag das gewiss unbefriedigend wirken. Ist der christliche Glaube nicht ein kulturstiftender und geschichtsprägender Faktor ersten Ranges? Gehen nicht der moderne Staat als solcher sowie etwa der Gedanke universeller Menschenrechte (vgl. Art. 1 Abs. 2 GG) auf das christliche Menschenbild zurück? Das ist alles zutreffend. Nichtsdestoweniger darf es nicht dazu führen, dass sich der Staat mit dem Christentum gemein macht oder es zu einer Legitimationsressource erhebt.
› Lesen Sie auch: Die gottlose Rechte?
Die Trennung von geistlicher und weltlicher Gewalt ist keineswegs ein Novum der Aufklärung oder gar des verfassungsstaatlichen Liberalismus. Man denke hier etwa prominent an Mt 22,21 („So gebt dem Kaiser, was dem Kaiser gehört, und Gott, was Gott gehört“) oder die Rezeption der Zwei-Schwerter-Lehre im hochmittelalterlichen Sachsenspiegel (Ldr. I 1: „Gott hinterließ auf Erden zwei Schwerter, die Christenheit zu beschützen: dem Papst ist das geistliche bestimmt, dem Kaiser das weltliche.“).
Lösung: ein konsequenter Rückgriff auf den Neutralitätsgedanken
Die Legitimationsgrundlage des Staates ist nach dem Grundsatz der Volkssouveränität ausschließlich der Demos als politische, nicht aber religiöse Gemeinschaft der Bürger. Der Staat des Grundgesetzes ist säkular, er sucht sich keine transzendente Begründung und Existenzberechtigung.
Deutschland kennt ferner keine Staatskirche (Art. 137 Abs. 1 WRV), und das ist auch gut so. Dies wäre in einem traditionell bikonfessionellen Nationalstaat wie dem deutschen (anders insoweit Österreich, ähnlich wiederum die Schweiz) ohnehin kaum ernsthaft zu bewerkstelligen. Eine soziale wie spirituelle Renaissance des Christentums kann es im Zuge organischer Entwicklungen, nicht aber im Wege eines staatlich orchestrierten Glaubensoktrois geben.
Die Antwort auf die zuvor skizzierten soziokulturellen Entwicklungen liegt aber nicht in der grenzenlosen Zulassung sichtbarer Glaubensäußerungen in jedem staatlichen Funktionsbereich, sondern in einem effektiven und konsequenten Rückgriff auf den Neutralitätsgedanken. Der gegenteilige Vorschlag läuft in letzter Konsequenz auf eine Nivellierung der für den modernen Staat konstitutiven Trennung von staatlicher und gesellschaftlicher Sphäre hinaus. Das aber ist eine Eigenheit totalitärer Systeme – der Staat des Grundgesetzes indes vereinnahmt die Gesellschaft nicht, sondern belässt ihr Freiräume, ohne sich mit diesen zu identifizieren.
Daran ändert auch der weitverbreitete Rekurs auf eine so floskelhafte wie unzutreffende Sentenz nichts: „Wir alle sind der Staat“ – dies ist gerade nicht der Fall. Der Staat ist ungeachtet punktueller personeller Überschneidungen und Verbindungen zwischen öffentlicher und privater Sphäre etwas kategorial anderes als die Gesellschaft. Das ist die Grundlage bürgerlicher Freiheit schlechthin.
Nationalsymbole selbstbewusst verteidigen
Die Neutralität des Staates ist eine grundlegende Errungenschaft der Moderne und eine Funktionsgrundlage bürgerlicher Freiheiten. Dennoch steht sie aktuell immer wieder unter Beschuss – häufig aus dem linken politischen Spektrum, aber auch in Gestalt gutgemeinter, aber fehlgeleiteter Vorhaben des Konservatismus.
Die Antwort auf eine in politischer Hinsicht zunehmend polarisierte und in religiöser Sicht fragmentierte Gesellschaft kann es nur sein, das Neutralitätsgebot wieder ernst zu nehmen. Eine Auflösung beider sozialer Systeme in einem diffusen Einheitsgebilde sichert nicht den gesellschaftlichen Frieden, sondern leistet im Gegenteil neuen Konflikten Vorschub und beschwört eine umfassende Legitimationskrise des Staates. Der Staat des Grundgesetzes ist – auch hier sei eine volkswirtschaftliche Begriffsleihe erlaubt – in parteipolitischer wie religiöser Hinsicht ein „Nachtwächterstaat“.
Das einzige staatlicherseits zu fördernde Symbol staatsbürgerlicher Einheit und Identifikation in Deutschland ist die Bundesflagge. Alles andere opfert den gesellschaftlichen Frieden auf dem Altar falsch verstandener Toleranz. Aber vielleicht ist dieser andernorts selbstverständliche Gedanke in einem Land, in dem man sich für die eigenen Nationalsymbole vielfach schämt und sie bisweilen sogar mit Misstrauen beäugt, statt sie mit Selbstbewusstsein und Stolz zu verteidigen, bereits zu viel verlangt.
› Kennen Sie schon unseren Corrigenda-Telegram- und WhatsApp-Kanal?
Kommentare
Das war sehr interessant und gut geschrieben. Vielen Dank! Aber aus Gründen der Vollständigkeit, wollte ich anmerken, dass mir diese Hyperneutralität eines Verfassungsstaates sehr entfernt von seiner praktischen Ausübung vorkommt. Ich glaube nicht, dass es überhaupt einen Staat geben kann, der so völlig neutral ist. Irgendwer muss und irgendwer wird regieren. Das Neutralitätsgebot ist eine philosophische Position, über die man unbedingt nachdenken muss. Die Realität selbst ist nicht wie sie ist, weil das Neutralitätsgebot verletzt wurde, sondern weil sich niemand jemals daran gehalten hat.
@Jurek Molnar Schließe mich diesem Forumsbeitrag vollumfänglich an!