Die Wahrheit des anderen

Ich habe da eine Vorstellung. Ich habe sie schon so lange ich denken kann. Aber sie ist so absurd, dass ich jetzt erst darüber spreche, als meine Frau Judith und ich bei unserem Lieblingsladen oben auf dem Berg zwischen den beiden Seen bei Kalbsragout mit Polenta sitzen. „Judith“, sage ich, „stell dir vor: All die Dinge, denen wir einen Namen geben und über die wir reden, sehen für jeden von uns beiden ganz anders aus.“
„Du meinst, ich zeige auf Berge und du siehst einen See?“ „Ja – und weil mir alle von klein auf beigebracht haben, dass mein See ‘Berg’ heißt, nenne ich ihn auch Berg.“ „Aha“, sagt Judith und fragt sich, seit wann zwei Gläser vom Hauswein hier oben so eine durchschlagende Wirkung bei mir haben.
Meine persönliche Theorie der Doppeldeutigkeit
Dabei ist es so, dass meine persönliche Theorie der Doppeldeutigkeit – oder englisch „personal theory of ambiguity“ – wie jede gute Theorie dazu taugt, sonst Unerklärliches zu erklären. Es gibt in unserem Leben tatsächlich solche Ambiguity Cases. Ich bin mir zum Beispiel ganz sicher, die Anschaffung unsere Hündin mit Judith detailliert besprochen zu haben, bevor wir mehrmals gemeinsam ins Tierheim gefahren sind und sie schließlich adoptiert haben. Inzwischen ist es mein Hund.
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Oder neulich, als Judith eine Woche auf Arbeit gefahren ist und ich mit unserem Töchterchen allein war, es am zweiten Tag während der Morgenkonferenzen kränkelte, mittags beim Kundengespräch fieberte, abends beim kreativen Schreibprozess stöhnte und ich am fünften Tag ausrief, Judith, wie kannst du uns so im Regen stehen lassen? Sie aber sagte, bei ihr scheine die Sonne und 51 Wochen im Jahr sei es ja umgekehrt.
Das Gegenteil mitdenken
Auch Weltereignisse erklärt meine Theorie gut. So bezeichnet US-Präsident Donad Trump seinen Berater Elon Musk als den Mann, „der den Verstand verloren hat“. Allerdings hatte er ihn zuvor eigens engagiert, was dafürspricht, dass der Präsident Männer, die den Verstand verloren haben, wertschätzt und sich selbst danach verhält. Brains sind für ihn Schwachköpfe. Er hat das in seiner Frühphase so gelernt, wir müssen es nur berücksichtigen.
Ein bisschen besser ist es deswegen, das Gegenteil immer mitzudenken. Es ist die Wahrheit des anderen. Dies gilt insbesondere in Beziehungen zwischen Frauen und Männern, wenn sie auf längere Zeit angelegt sind. „Lass uns in den See springen“, ruft Judith. „Klar!“, sage ich und schnüre mir schnell noch die Bergstiefel zu.
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