Sag mir, wo die Denkmale sind

Meine Frau Judith und ich, als wir neulich so im Auto um Ulm gefahren sind, bekamen ein heikles Thema aus dem Radio serviert: In Ulm ist ein Mahnmal für François Joseph Weiss errichtet worden. Der Mann war ein französischer Zwangsarbeiter, der drei Wochen vor Kriegsende hingerichtet wurde, weil er Filzstiefel geklaut haben soll. Es ist ein dramatischer, barbarischer, trauriger Fall, und es ist keine Frage, dass dieses Mahnmal seine Berechtigung hat.
Aber mich treibt etwas um. Ich stelle die Lüftung und das Radio leiser und sage zu meiner Frau: „Warum errichten wir eigentlich nur noch Mahnmale? Warum gibt es keine neuen Denkmale mehr?“ Und dann hole ich so richtig aus. Für Mahnmale müssten wir uns ständig schämen, auf Denkmale könnten wir stolz sein.
Wäre es nicht ein bisschen besser, in Ulm und um Ulm herum lieber mit einer gewissen Lebensfreude herumzulaufen als ständig mit einem schlechten Gewissen? Judith, jetzt sag du was! „Wem möchtest du denn ein Denkmal errichten?“, fragt sie mit dieser typischen praktischen Ader, die sie nun mal hat.
Wer eignet sich als Held?
Was für eine Nuss! Wir fahren Kilometer um Kilometer, durch Tunnel und über schneebedeckte Pässe in den Süden, wo zwischen den Palmen an den Seeufern steinerne Engelsputten stehen und seit Jahrhunderten versonnen in den blauen Himmel schauen. Lady Di? Greta Thunberg? Olaf Scholz? Die Helden unserer Zeit haben oft ein kurzes Ablaufdatum. Judiths Tochter mischt sich von der Rückbank ein. Selfiesandra schlägt sie vor. Ich muss nachschlagen.
Sie sei eine Frohnatur, erfahre ich, die Schule und Studium abgebrochen hat, um als Influencerin durchzustarten, was sie gar nicht vorgehabt, zwischendurch aber den Bruder ihrer besten Freundin Laserluca kennengelernt habe – und dann ging alles ganz schnell. „Offline im Wald“ heißt ihre erfolgreichste Challenge.
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Während ich über die Gestaltung von Selfiesandra in Bronze oder Granit nachdenke, und genau, als wir das Garibaldi-Denkmal auf dem Marktplätzchen des kleinen Dörfchens, wo wir halten, belächeln, begreife ich, dass die Zeit der Denkmale abgelaufen ist.
Moderne Helden sind wie diese sich selbst löschenden Videos: einmal gesehen und auf immer verschwunden. „Die einzige, der ich ein Denkmal errichten möchte, bist du“, sage ich zu Judith. „Das hat Zeit“, meint sie. „Lass uns jetzt lieber offline im Wald verschwinden.“
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Kommentare
Mahnmale werden mit großem Eifer von denen errichtet, die immer zeigen wollen, wie schlecht und gemein und verdammenswert diese Welt doch ist, die verkniffenen Untergangspropheten, denen ständig neue Untergangsszenarien in den Sinn kommen. Es sind diejenigen, die nicht gönnen können, dass es das Gute, Wahre und Schöne von Gott gibt und dass es jemand gut gehen könnte.
Ein Denkmal braucht man nicht errichten, aber jeder kann über den einen Menschen nachsinnen, welcher einem das Wunderbare und Liebenswerte in dieser Welt nahegebracht hat.