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Naturliebe gebiert Menschenhass – Teil II

Der Wald, der große Widersacher

Im Dezember 1966 hält der US-amerikanische Mediävist Lynn Townsend White Jr. in Washington D. C. einen Vortrag, dessen Druckfassung im Jahr 1967 eine Debatte auslöst. Das Papier wird hundertfach zitiert und diskutiert. Whites Aufsatz ist meinungsstark, für ihn steht fest, wer für die Misere einer sogenannten „Ecological Crisis“ verantwortlich ist: das Christentum mit seiner vermaledeiten menschenfreundlichen Ideologie.

Wie kann das sein, wo doch das Christentum scheinbar seit Jahrhunderten in der Bedeutung schwindet, die Naturveränderung aber zunimmt? White sieht die westliche Mentalität und ihr teleologisches Geschichtsmodell als eine immer noch stark von christlichen Denkfiguren geprägt Weltsicht. Und weil diese Weltsicht uns nun in gewisser Form – als gleichsam „anonymes Christentum“ – eignet, bleibt laut White auch deren Sicht auf das Mensch-Natur-Verhältnis bestehen.

Wie sieht White dieses Verhältnis? Und: Kann man von ihm, dem Feind eines christlichen Weltbildes, hier nicht eine besondere Scharfsicht der Analyse erwarten?

White betrachtet den Schöpfungsbericht und kommt zum Fazit:

„Besonders in seiner westlichen Form ist das Christentum die anthropozentrischste Religion, die die Welt je gesehen hat. Bereits im 2. Jahrhundert betonten sowohl Tertullian als auch der heilige Irenäus von Lyon, dass Gott, als er Adam formte, das Bild des fleischgewordenen Christus, des Zweiten Adam, vorwegnahm. Der Mensch teilt in hohem Maße Gottes Transzendenz über die Natur.”

White stellt für das Christentum fest: Es gibt keine Religion, die die Rangordnung zwischen Natur und Mensch derart betont. Für Christen ist die Natur nicht Gegenstand spiritueller Betrachtung:

„Für einen Christen kann ein Baum nicht mehr als eine physische Tatsache sein. Das gesamte Konzept des heiligen Hains ist dem Christentum und dem Ethos des Westens fremd. Fast zwei Jahrtausende lang haben christliche Missionare heilige Haine gefällt, die als götzendienerisch gelten, weil sie Geist in der Natur annehmen.“

Dieses Verhältnis von Mensch zu Natur isoliert White als Grund für die „Ecological Crisis“, die er in den 1960er Jahren zu erblicken glaubt.

Eine vorgebliche „ökologische Krise“ als Vorwand zum Glaubensabfall

Wie kann diese gelöst werden? White lässt noch ein quasi ökologisiertes Christentum als Möglichkeit bestehen, weiß als scharfer Denker aber eigentlich, was mit dem Christentum passieren muss, damit die Anbetung der beseelten Natur siegen kann:

„Sowohl unsere gegenwärtige Wissenschaft als auch unsere gegenwärtige Technologie sind so sehr von orthodox christlicher Arroganz gegenüber der Natur durchdrungen, dass von ihnen allein keine Lösung für unsere ökologische Krise erwartet werden kann. Da die Wurzeln unserer Probleme weitgehend religiös sind, muss auch das Heilmittel im Wesentlichen religiös sein, ob wir es nun so nennen oder nicht. Wir müssen unsere Natur und unser Schicksal überdenken und neu fühlen.“

Ein Schelm, wer hier nicht den Aufruf zur Stiftung einer Art pantheistischer Naturreligion sehen will, die wohl – im Namen der Überwindung der „Ecological Crisis“ – einiges an „orthodox christlicher Arroganz“ hinwegfegen soll.

Aber bevor das Christentum in der Neuzeit immer mehr und mehr in Frage gestellt wird, erlebt es im Mittelalter seinen Höhepunkt. Keineswegs zeigt sich aus christlicher Sicht eine Art Mittelmaß auf dem Weg zur Renaissance, das durchschritten werden müsste, sondern ein Zeitalter, in dem die gesamte Gesellschaftsordnung nach christlichen Vorstellungen ausgestaltet ist. Passend auch das Selbstverständnis des Zeitalters, das sich als Aetas Christiana kurz vor der Vollendung der Welt und der Wiederkunft Christi wähnt. Es sollte anders kommen.

Bringt der mittelalterliche Mensch den Bäumen Opfer?

Wie ist jetzt das Verhältnis von Mensch zu Natur? Bringt der mittelalterliche Mensch den Bäumen Opfer, lohnt es, der Natur „Kränze zu weihn und Gesang“? Wie der Blick sich aus der Mittelmeerregion nach Norden wendet, so wendet sich auch die Trennlinie zwischen Mensch und Natur.

Das warme, angenehme Klima, ein stetiges Bevölkerungswachstum und eine Verbesserung der bäuerlichen Anbaumethoden macht aus der Periode des Hochmittelalters eine Blütezeit für den Menschen. Er vermehrt sich und ringt der Natur immer mehr Raum ab. Im Zuge des Landesausbaus tritt der Mensch immer mehr in Gebiete, die er früher vernachlässigt hat, weil sie keine idealen Siedlungsräume des Altsiedellands waren.

Er trifft auf die wilde Natur – und macht sie sich untertan, transformiert sie in seinem Kulturprozess zu etwas Eigenem und bewahrt gleichzeitig eine Ahnung davon, was vorher war. Der Wald erscheint als der große Widersacher des Menschen, als Gegen-Raum, den es zu überwinden und zu bezähmen gilt.

Hier die Kultur, dort der Wald

Wie fern scheint idyllische Sehnsucht, wenn der abendländische Philosoph Bernardus Silvestris den Wald beschreibt:

„Ein starrender Wald, ein formloses Chaos, ein widerspenstiges Dickicht, ein seinsfremdes Gebilde, eine in sich uneinige Masse strebt aus wirbeliger Unruhe in maßvolle Ordnung, aus der Rohheit in die Form, aus der Wildnis in die Kultivation.“

Auch dem Leser der mittelalterlichen Ritterepen eines Chrétien de Troyes oder Hartmann von Aue fällt der Wald nicht als Sehnsuchtsort auf, sondern als – auch faszinierender – Ort des Schreckens und der Andersartigkeit. Lebt doch der mittelalterliche Roman von der Dualität einer kultivierten höfischen Welt um den (vornehmlich Artus-)Hof und einer rohen anderen Sphäre.

In diese muss der Ritter quasi hinabsteigen, um sich in zahllosen aventiuren zu beweisen, er muss sie aber auch schleunigst wieder verlassen, um – sich quasi einem Kulturprozess unterzogen habend – zum Hof zurückzukehren.

Der Wald, ein Territorium der Asozialität

Was findet der Ritter in dieser Gegenwelt, deren primärer Ort das formlose Chaos des Waldes ist? Im „Iwein“ beschreibt Hartmann eindrücklich, was den Helden im Wald erwartet. Der Ritter Kalogreantberichtet von einer Episode im Dickicht, die exemplarisch für das Waldbild des höfischen Romans steht – gerade, weil sie die einseitige Sicht dieses Raums als Besonderheit dann doch aufbricht.

Der Ritter kommt in ein Waldstück, die Situation ist ihm nicht geheuer. Dann sieht er wilde Tiere miteinander kämpfen. Er findet ihren Kampf verabscheuenswert und bereut es, so tief in den Wald eingedrungen zu sein. Dann glaubt er, einen Menschen zu erblicken – und freut sich. Inmitten der Wildnis ein Verbündeter! Aber der Mensch entpuppt sich als eine Art „Natur-Wesen“, wild, zerzaust, wüst und hässlich – eine vollkommene Verkörperung der unkultivierten Gegenwelt zum ritterlichen Hof.

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Der Wald steht also in dieser Zeit nicht für einen freundlichen Platz der Natur-Idylle, sondern für feindliche Welt, die es zu bezwingen gilt: „Der Wald war und blieb stets ein ‘Territorium der Asozialität’“. Besonders plastisch wird diese Meinung in einer Anekdote. Als 1519 der Foret de Bleu von einem Wirbelsturm komplett niedergerissen wird und 50.000 bis 60.000 Bäume entwurzelt und umgeworfen werden, ist die Reaktion der Bewohner keine Trauer um das Waldsterben, sondern Freude – und der Gedanke, dass man diesem Sturm viel zu verdanken habe.

Widerstreitende Ideen im französischen und englischen Garten

Die humanistische Konstante des antiken und mittelalterlichen Denkens kann sich nicht ewig halten. Sie wandelt sich zunehmend. Aber das Verhältnis des Menschen zu seiner Natur wird weiterhin auf dem Gebiet der Bäume diskutiert. Besonders zeigt sich das in den verschiedenen Konzepten der Gartengestaltung, die zu einer stilbildenden Kunstform ausgebaut wurde und wird. Aber wie viel Menschenbild, Weltsicht und Lebensmeinung soll schon darin stecken, wie man Bäume anordnet auf Kies und Rasen?

Eine Menge. Im Groben sind es zwei geografische Termini, die die widerstreitenden Ideen zusammenfassen. Steht der „französische“ Garten primär für das Bild einer durch den Menschen eingehegten Natur, so nimmt der „englische“ Garten den primären Eindruck einer – natürlich auch konstruierten – Natürlichkeit in den Fokus. Die Art, wie Bäume sich platzieren, sagt durchaus einiges über ein gesamtes Weltbild aus.

Die Gärten von Versailles: Alles ist geordnet, in Form gebracht, durch die Hand des Menschen gegangen

Der „französische“ Garten begleitet die großen barocken Schlossbauprojekte. Gebäude und Garten entstehen in gemeinsamer Konzeption, der Garten „gehört“ zum Schloss dazu. Kein Wunder, dass die architektonischen Prinzipien des Baus auch den Garten bestimmen. Das barocke Weltbild etabliert nach einer Übergangszeit der Wirren der vergangenen Jahrhunderte wieder den Gedanken der Ordnung – den Gedanken einer Ordnung, die allumfassend ist.

Menschen-Ordnung bis ins kleinste Detail

Wie die Kultur eines Landes an den absolutistischen Höfen kulminiert, so kulminiert der Hof im barocken Schloss, das die Macht des Herrschers Form werden lässt. Innen und Außen, Natur und Bau sind durch den rationalen Prozess des Architekten auf ein Ziel hin komponiert, sie etablieren die Ordnung bis ins kleinste Detail.

Objektive Kriterien wie Symmetrie, Geometrie und Proportion geben vor, wie Bau und Garten beschaffen sind. Die Schere des Gärtners lässt den einen Halm wachsen und schneidet den ähnlichen am anderen Ort ab – eben weil eine objektive Ordnung gleichsam in Draufsicht das Prinzip der Gestaltung ist.

Die Form der Baumkronen und Blüten wird „von außen“ bestimmt, ein kleinteiliger Kulturprozess weist jeder Pflanze und jedem Kies seinen Platz zu. Alles ist geordnet, alles ist in Form gebracht, alles ist durch die Hand des Menschen gegangen und von seinem Willen abhängig. Bassins durchziehen den Kies, mit dem Lineal gezogen, jeder Baum ist an den Ort gesetzt, wo er sein soll. Es wird deutlich, wie die Wertigkeit zwischen der Natur und ihrem Gestalter verteilt ist.

Die vergewaltigte Natur?

Die Natur, jede Pflanze, jeder Ast fungiert als „rohes“ Material, das erst durch die Hand des Menschen seinen richtigen Platz erhält. Ein ständiger Veredelungsprozess hält das System im Gleichgewicht, nichts kann sich selbst überlassen werden. Der Mensch muss der objektiven Ordnung gleichsam nachfolgen, um sie ständig wieder neu herzustellen – und damit auch sich selbst als ein von aller Rohheit gereinigtes Wesen.

Ein Konzept, das viel mehr ist als eine Weise, Bäume zu platzieren, und ein Konzept, das auch schon zur Zeit seiner eigenen Ausarbeitung im Namen der „Natürlichkeit“ angegriffen wird. Der Geschichtsschreiber Henri de Saint-Simon schreibt über Ludwig XIV. und sein Projekt Versailles:

„Es gefiel ihm, auch die Natur gewaltsam zu beherrschen, sie der Kunst und dem Gelde zu unterwerfen. Planlos reihte er ein Gebäude neben das andere, Hässliches und Schönes, Großartiges und Kleinliches, alles bunt durcheinander. Eng und unbequem, finster und ohne Aussicht sind sogar seine und der Königin Räume. Die Gärten verraten erstaunliche Prachtliebe. Aber sie sind geschmacklos und laden nicht zum Aufenthalt ein. Überall ist die Natur vergewaltigt worden, und man mag wollen oder nicht: man wird davon abgestoßen und angewidert.“

Egal wie absurd der Gedanke erscheinen mag, von den Gärten von Versailles abgestoßen zu werden, so wird diese Denkschule der Anklage an den Barockgarten unter der Prämisse der Natürlichkeit immer wichtiger.

Im englischen Garten wird die Wildheit selbst zum Ideal und der Mensch zur Randfigur

In England beginnt die Form des französischen Gartens zu diffundieren; eine kleine Freiheit hier, eine Extravaganz dort; vielleicht nah am Schloss noch ein streng geformter Teil, der sich schnell aufzulösen beginnt oder ein neues radikales Konzept überall: Lass der Natur ihren Lauf. Lass alles so scheinen, als ob es hier schon immer so ausgesehen hätte.

Blick über eine Partie des Landschaftsgartens Prior Park beim Kurort Bath im Südwesten Englands: Die Ordnung der Dinge auf den Kopf gestellt

Lass es so scheinen, als ob es keinen Menschen brauche, der hier Bäume stutzt und Hecken schneidet. Sie sind natürlich immer noch Kulturprodukte, diese neuen Gärten – von gestalterischen Granden wie „Capability“ Brown planvoll in die Natur hineingelegt, gebaut und gewerkelt. Aber doch: Der Maßstab ist verschoben. Waren es früher die objektiven Werte, die der Mensch auf die ihn umgebende Natur appliziert, so wird jetzt die Wildheit selbst zum Ideal – nolens volens noch immer durch den Menschen gestaltet. Aber der wird immer mehr zur Randfigur und zum Störfaktor.

Der Philosoph Anthony Ashley Cooper, besser bekannt als Shaftesbury, kann sich kaum zurückhalten, wenn er in „The Moralists“ (1709) schreibt:

„Ich werde der Leidenschaft, die in mir für Dinge natürlicher Art wächst, nicht länger widerstehen; wo weder Kunst noch die Einbildung oder Launen des Menschen ihren ursprünglichen Zustand verdorben haben, indem sie in diesen ursprünglichen Zustand eingreifen. Selbst die rauen Felsen, die moosigen Höhlen, die unregelmäßigen, unbehauenen Grotten und die zerklüfteten Wasserfälle, mit all den schrecklichen Reizen der Wildnis selbst, die die Natur stärker repräsentieren, werden umso anziehender sein und mit einer Pracht erscheinen, die die formale Verhöhnung fürstlicher Gärten übertrifft.“

Shaftesbury beschreibt, wie sich die Ordnung der Dinge im englischen Garten auf den Kopf gestellt hat. Diese Gärten seien Orte, wo der Mensch die Natur nicht verdorben hat. Die Wildheit an sich, die den Menschen förmlich ausstoßende Rohheit wird zum Ideal eines neuen Zeitalters der Gartengestaltung.

Wie tief steht der Mensch nun? Und wer hat seinen Platz eingenommen?

„Der Naturzustand trägt nicht mehr die Züge der Grausamkeit und des Mangels, was nach Pazifizierung und Naturbeherrschung rufen lässt, sondern der inneren Harmonie, der Fülle und der Schönheit“ heißt es zusammenfassend in der von Peter Dinzelbacher herausgegebenen „Europäischen Mentalitätsgeschichte“. Was folgt aus dieser Akzentverschiebung? Wie ergeht es dem Menschen dort unten am Boden der Wertigkeit? Die folgenden Jahrhunderte werden es zeigen.

› Den ersten Teil des Artikels lesen Sie hier. Am morgigen Sonntag erscheint eine Erwiderung Riccardo Wagners.

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