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Nicht das Kind mit dem Bade ausschütten

Moral statt Moralismus

Wer den Begriff des Moralismus im Munde führt, tut dies in der Regel in vorwurfsvoller oder tadelnder Absicht. Wenn man beispielsweise die Befürworter einer Corona-Impfpflicht oder die Anhänger der „Letzten Generation“ des Moralismus bezichtigt, verteilt man keine Komplimente. Nicht selten tritt der Antimoralist dabei als Relativist auf: Was gut und was böse sei, könne man nicht einfach sagen; es gelte, ethische Grauzonen anzuerkennen und sich in moralischer Urteilsenthaltung zu üben. Pragmatismus statt Moral, lautet also die Devise.

Was allerdings allzu oft übersehen wird: Für seine Gegner ist der Moralismus klarerweise etwas Schlechtes. Eine einfache Reflexion auf das eigene Tun müsste ihnen daher klar machen, dass sie selbst ein Werturteil fällen. Aus diesem lässt sich dann auch ohne größeren Aufwand eine moralische Norm gewinnen, wie zum Beispiel: „Du sollst keinen Moralismus betreiben!“ Die Kritiker des Moralismus müssen also selbst einen moralischen Standpunkt beziehen, um ihre Kritik überhaupt vorbringen zu können.

Sind die Antimoralisten also letztlich bloß verkappte Moralisten? Nicht unbedingt, denn Moral und Moralismus sind nicht dasselbe. Was aber genau der Unterschied ist, ist auf Anhieb gar nicht so leicht zu sagen. Umso wichtiger einmal darüber nachzudenken.

Dem Moralisten mangelt es vor allem an der Tugend der Klugheit

Ein erster Vorschlag, wie man Moral von Moralismus unterscheiden könnte, findet sich bei Joseph Kardinal Ratzinger. Dieser schrieb über das Verhältnis von Wirtschaft und Moral: „Eine Moral, die […] die Sachkenntnis der Wirtschaftsgesetze überspringen zu können meint, ist nicht Moral, sondern Moralismus, also das Gegenteil von Moral.“ Moral und Moralismus sind für Ratzinger also nicht nur nicht dasselbe, sondern glatte Gegensätze: Wer sich im Moralismus ergeht, handelt demnach unmoralisch. Und umgekehrt ist eine wahrhaft moralische Position niemals moralistisch.

Das entscheidende Merkmal, das in Ratzingers ökonomischem Beispiel den Moralismus von der Moral unterscheidet, ist, dass Ersterer die Sachkenntnis der Wirtschaftsgesetze bewusst ausklammert. Dieser Punkt lässt sich ohne Weiteres verallgemeinern, so dass man sagen könnte: Der Moralist blendet die Eigengesetzlichkeit des Bereichs, über den er moralisch urteilt, aus. Er ignoriert, mit anderen Worten, die konkrete Sachlage, den realen Kontext. Stattdessen kapriziert er sich auf ein moralisches Prinzip, ohne zu prüfen, ob es hier und jetzt überhaupt greift.

Woran es dem Moralisten vor allem mangelt, ist die Tugend der Klugheit. Klugheit im hier gemeinten Sinne ist nicht Scharfsinn oder Intelligenz, sondern die Fähigkeit, situationsspezifisch das Richtige und Angemessene zu tun. Das soll nicht heißen, dass die Moral nicht auch absolute Aussagen trifft: Unschuldiges Leben etwa darf unter keinen Umständen absichtlich genommen werden. Wo es aber um Dinge geht, die nicht in sich, sondern nur unter bestimmten Bedingungen schlecht sind, kommt alles auf die kluge Beurteilung der genauen Umstände an.

Wer also beispielsweise aus Angst, dass das Ansteigen der globalen Durchschnittstemperatur zu einer Verschlechterung der Lebensbedingungen führen wird, politische Maßnahmen fordert, die den Zusammenbruch der Wirtschaft und damit schwerste soziale Verwerfungen zur Folge hätten, der handelt unklug und moralistisch. Er pickt sich aus einem komplexen Zusammenhang einen – durchaus moralisch relevanten – Aspekt von vielen heraus und verabsolutiert ihn auf Kosten der anderen – moralisch ebenso relevanten – Gesichtspunkte.

Das Wohlergehen des eigenen Volkes im Blick zu haben hat selbst moralisches Gewicht

Dieses Schema lässt sich auch beim Thema Krieg beobachten. Der Moralismus stellt uns dort vor die scheinbar exklusive Alternative: entweder politisches Eigeninteresse oder Moral. Sollen wir uns beispielsweise am russisch-ukrainischen Konflikt – etwa durch Waffenlieferungen – beteiligen, auch wenn unserem Land dadurch Nachteile entstehen? Moralist ist man nicht automatisch, wenn man dies bejaht. Allerdings muss man, wenn man einen hohlen Moralismus vermeiden will, anerkennen, dass die spezifische Aufgabe der Politik gerade darin besteht, das Wohlergehen des jeweils eigenen Volkes zu sichern und zu fördern. Und es gilt einzusehen: Diese Aufgabe hat selbst ethischen – oder eben: moralischen – Charakter. Anders als der Moralist meint, hat politisches Eigeninteresse selbst moralisches Gewicht.

Ein weiterer Denker, mit dem sich Moralismus treffsicher analysieren lässt, ist der Philosoph Arnold Gehlen. In seinem späten Text „Moral und Hypermoral“ (1969) hat er eine pluralistische Ethik entworfen, der zufolge es verschiedene, bereichsspezifische ethische Prinzipien gibt. Unter anderem unterscheidet Gehlen zwischen einer Ethik der Nähe, deren Kern das „familienbezogene ethische Verhalten“ bildet, und einem „Ethos der Institutionen, einschließlich des Staates“.

Das Ethos des Staates dreht sich vor allem um die erfolgreiche Selbstbehauptung. Dazu bedarf es dezidiert politischer Tugenden: „Der Disziplin und Nüchternheit, der Wachsamkeit und Ausdauer, der Fähigkeit zur Konzentration und des rationalen Gefahrensinns.“ Geboten ist im Politischen also ein Ethos der Distanz statt eines der familiären Nähe.

Der Moralismus bringt die Moral zu Unrecht in Verruf

Der Moralismus, der bei Gehlen „Hypermoral“ oder „Moralhypertrophie“ heißt, besteht nun insbesondere darin, das Ethos der Familie auf alle Lebensbereiche auszudehnen. Der daraus resultierende Universalismus verlangt, alle Beziehungen wie intime Nahbeziehungen zu behandeln, was sich exemplarisch in der Rede von der „Menschheitsfamilie“ ausdrückt. Dadurch aber werden die Gesetzmäßigkeiten der menschlichen Gefühlswelt bewusst missachtet, denen zufolge man vielleicht noch den Nächsten, nicht aber den Übernächsten lieben kann wie sich selbst.

So gesehen bestätigt Gehlens Diagnose der Hypermoral die oben angeführten Gedanken Ratzingers zum Moralismus: Wer ohne Kenntnis der Sachzusammenhänge und ohne hinreichende Berücksichtigung der bereichsspezifischen ethischen Eigentümlichkeiten „moralische“ Forderungen erhebt, urteilt in Wahrheit gar nicht moralisch, sondern moralisiert nur.

Wenn es beim Moralismus demnach gar nicht um die Sache selbst geht, worum dann? Die Antwort liegt in der psychischen Funktion, die das Moralisieren erfüllt. In erster Linie handelt es sich um einen expressiven Akt, mit dem bekanntgegeben werden soll: „Ich bin ein guter Mensch!“ Aber insofern der Moralismus das Gegenteil von Moral ist, ist auch der Gutmensch das Gegenteil eines guten Menschen. Dementsprechend geht die für den Moralismus typische Selbstbeweihräucherung mit der Herabsetzung und dem Ausschluss des anderen einher. Ganz nach dem Motto: „Wer meiner Position widerspricht ist böse und darf daher gar nicht erst zu Wort kommen.“

Der Moralismus dient also neben der Erhöhung des eigenen Ego zugleich dem Diskursverbot. Im scharfen Kontrast dazu lässt eine wahrhaft moralische Diskussion unterschiedliche Ansichten zu. Sie tut dies aber nicht, weil sie Moral für etwas Beliebiges hält, ganz im Gegenteil: Gerade, weil es objektive moralische Wahrheiten zu entdecken (statt zu erfinden!) gibt, lohnt sich die sachliche Auseinandersetzung zu kontroversen moralischen Fragen.

Wer also der moralinsauren Tugendwächter unserer Tage überdrüssig ist, der sollte nicht das Kind mit dem Bade ausschütten, indem er sich – etwa in Fragen der Politik – jeglichen Bezug auf moralische Standards verbittet. Wie unmoralisch der Moralismus ist, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass er die Moral zu Unrecht in Verruf bringt.

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O.G.
Vor 1 Jahr 1 Monat

Danke für diesen Beitrag, geschätzer Herr Dr. Ostritsch. Allzu oft und lange schon hat der ehrenwerte Begriff der Moral unter den Wirrheiten der (Hyper-)Moralisten gelitten.

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O.G.
Vor 1 Jahr 1 Monat

Danke für diesen Beitrag, geschätzer Herr Dr. Ostritsch. Allzu oft und lange schon hat der ehrenwerte Begriff der Moral unter den Wirrheiten der (Hyper-)Moralisten gelitten.