So schwach sind die Argumente der Brosius-Gersdorf-Befürworter der Union

In den Büros der Bundestagsabgeordneten von CDU und CSU brennt die Luft. Zum einen erreichen sie Tausende E-Mails von besorgten bis empörten Bürgern, die es nicht verstehen können, dass ihre Partei, die das C im Namen trägt, jemanden wie Frauke Brosius-Gersdorf nach Karlsruhe schicken will.
Zum anderen, weil mit dieser Wahl für die Politiker viel auf dem Spiel steht. Vor allem für die Fraktionsführung und all jene, die in ihrem Lager stehen, also für die Potsdamer Juraprofessorin eintreten, die in der Vergangenheit so polarisierend Stellung bezogen hat zum Lebensrecht von ungeborenen Kindern, zur Corona-Impfpflicht, zur Geschlechterparität, zum Kopftuchverbot und zum Gendern.
Corrigenda liegen mehrere E-Mails verschiedener Abgeordneter vor, die zum Lager der Fraktionsführung gezählt werden können. Neben den bereits bekannten Argumenten – den Koalitionsfrieden bewahren und die Wahl nicht an den Bundesrat abzugeben – werden jetzt neue Gründe genannt, die die Wahl Brosius-Gersdorfs erklären sollen.
Verfassungsrichter sind keine über der Gesellschaft stehende Instanz
Ein führender CDU-Politiker verweist auf das Vorschlagsrecht der SPD sowie darauf, dass Richter zur Neutralität verpflichtet seien und dass der Bundestag handlungsfähig bleiben müsse. Ein weiterer erklärt einem Unionswähler: Brosius-Gersdorf sei nicht so schlimm, wie in der Presse zu lesen sei. Sie erkenne Ungeborenen das Lebensrecht zu, und es gebe weitere Themenfelder, mit denen sich Karlsruhe demnächst befassen könnte.
Tatsächlich kann gemäß einer Vereinbarung aus dem Jahr 2018 die SPD genauso viele Verfassungsrichter vorschlagen wie die Union, auch wenn die Genossen bei der Bundestagswahl im Februar ihr schlechtestes Ergebnis jemals erzielt hatten und nur noch drittstärkste Kraft im Bundestag sind.
Doch die Union muss diese Kandidaten nicht wählen. Wie berichtet, hatte sie Brosius-Gersdorfs Doktorvater Horst Dreier 2008 abgelehnt, woraufhin die SPD den Vorschlag zurückzog und Andreas Voßkuhle benannte.
Auch das Argument mit der Neutralität greift nicht. Oft ist davon die Rede, wenn Juristen in eine rote Robe schlüpften, legten sie ihre persönlichen und politischen Ansichten ab. Fest steht aber auch, dass Verfassungsrichter rückgekoppelt sind auf die Grundtendenzen in der Gesellschaft, wie der Staatsrechtler Jonas von Zons schrieb:
„Auch Richter sind Menschen und stehen nicht außerhalb eines gerade existierenden Zeitgeists, sondern sind in gesellschaftliche Umweltbedingungen eingebunden. Die Autorität des Gerichts lebt von der soziokulturellen Akzeptanz seiner Entscheidungen, so dass die Richter ein Gespür für die gesellschaftliche und politischen Grundstimmung entwickeln und diese im Blick behalten. Die Grenzen zwischen Normativität und Faktizität, zwischen Recht und Politik werden hier zwangsläufig verwischt.“
Das Grundgesetz hat zudem eine sehr geringe normative Direktionskraft. Es lässt großen Spielraum. Verfassungen, die länger als ein paar Jahrzehnte überdauern wollen, müssen auch eine gewisse Flexibilität aufweisen. Jedoch bedeutet das auch, was Rudolf Smend, eine Koryphäe auf dem Gebiet des Staatsrechts, wie folgt auf den Punkt brachte:
„Das Grundgesetz gilt praktisch so, wie das Bundesverfassungsgericht es auslegt, und die Literatur kommentiert es in diesem Sinne.“
Die Richter des Bundesverfassungsgerichts sind nicht „neutral“ im Sinne einer außerhalb der Gesellschaft stehenden Instanz. Vielmehr füllen sie die Artikel des Grundgesetzes mit Inhalt. Und dieser Inhalt kann sich ändern.
Ein abgestuftes Lebensrecht? Nein, der Mensch ist Mensch und wird es nicht erst
Ein weiteres auf den ersten Blick bei Abgeordneten offenbar verfängliches Argument: Brosius-Gersdorf sei eine Staatsrechtlerin, die durchaus differenziere. So betone sie, dass Menschen auch vor der Geburt ein Lebensrecht hätten, jedoch sei es ein abgestuftes.
Als stellvertretende Koordinatorin der für Abtreibung zuständigen „Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung“ war die Juristin maßgeblich verantwortlich für deren Abschlussbericht: In der ersten Phase bis zur zwölften Schwangerschaftswoche solle das Entscheidungsrecht allein der Mutter obliegen, und der Gesetzgeber solle Abtreibung vollständig legalisieren. In der zweiten Phase ungefähr bis zur 22. Woche könne der Gesetzgeber eingreifen, er müsse es aber nicht. Danach sei eine Abtreibung „grundsätzlich rechtswidrig“, der Gesetzgeber müsse sie aber nicht strafrechtlich verfolgen.
Ein abgestuftes Lebensrecht ist jedoch schon logisch ein Widerspruch. Denn der Mensch ist Mensch von Anfang an und wird es nicht erst. Durch biologische und genetische Erkenntnisse wissen wir, dass das menschliche Leben mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle beginnt. Hierdurch entsteht ein Mensch mit eigenständigem genetischem Code, versehen mit einem Entwicklungsprogramm hin zu einem ausgewachsenen Menschen und ausgestattet mit einer eigenen Seele.
Das Scheinargument des zu wahrenden Koalitionsfriedens
Ein anderer Abgeordneter, der ebenfalls zum Lager der Fraktionsführung gehört, vermischt sogar die Themen Lebensschutz und Migration. Man habe mit der SPD Erfolge in der Asylpolitik erzielt, weitere Gesetze seien angedacht. Dies dürfe man jetzt nicht gefährden, indem man die von der SPD vorgeschlagene Kandidatin ablehne.
Die Asylzahlen gehen tatsächlich zurück. Erstmals seit Jahren ist Deutschland aktuell nicht mehr das Zielland Nummer eins. Spanien und Frankreich verzeichneten im ersten Halbjahr mehr Asylanträge. Dieser Erfolg ist aber nicht allein das Verdienst von Schwarz-Rot, sondern vorwiegend von Abkommen, die teils noch von der Ampel-Regierung beschlossen worden sind.
Das gewichtigste Gegenargument aber ist: Die Asylpolitik von Schwarz-Rot ist im Koalitionsvertrag festgehalten. Alles, was Bundesinnenminister Alexander Dobrindt (CSU) an Gesetzesentwürfen plant, ist mit der SPD bereits abgesprochen. Die aktuelle Migrationspolitik ist keine Wohltat der SPD, sondern das Einhalten des Koalitionsvertrags.
Zudem hat sich die SPD zuletzt in einigen wichtigen Punkten durchgesetzt. So haben es SPD-Minister erfolgreich verhindert, die Bürgergeldkosten zu senken. Auch bei der Schuldenpolitik und der Verteilung der damit aufgenommenen Gelder ist die Union der SPD entgegengekommen.
Mehrere Abgeordnete bestätigen, dass diese Argumente ihrer Kollegen und ihrer Führung nicht verfangen. Die Stimmung sei aufgeheizt, erzählt ein CDU-Abgeordneter. Ein Mitarbeiter nennt sie „mies“. Der in der Union gut vernetzte Welt-Journalist Robin Alexander schrieb am Donnerstagmittag, die Einwände der Unionsabgeordneten seien „massiv und lagerübergreifend“. Es sei „keine Frage von konservativem versus liberalem Flügel“. Bis Mitte der Woche hätten die Fraktionsführung sowie die Landesgruppenvorsitzenden noch zu erklären versucht, Brosius-Gersdorf sei gar nicht so links. Inzwischen werde mit „enormen Kollateralschäden“ gedroht. Gar von „Staatskrise“ sei die Rede.
Spahn kämpft um politisches Überleben
Dreht der Wind gerade? Schwer zu sagen. Manche sprechen von 50 bis 60, andere gar von rund 100 Abgeordneten, die gegen Frau Brosius-Gersdorf stimmen wollen. Doch verlassen sollte man sich darauf nicht. Denn Fraktionschef Jens Spahn dürfte alles dafür tun, dass die Personalie durchgeht. Schließlich hat er intern seit Tagen für sie geworben. Somit dürfte die Wahl am morgigen Freitag im Bundestag auch eine Abstimmung über seine Erfolgsaussichten in der CDU sein. Abgesehen von dieser Causa kämpft Spahn mit einer Masken-Affäre aus der Coronamaßnahmen-Zeit.
› Abonnieren Sie den Corrigenda-Newsletter und erhalten Sie einmal wöchentlich die relevantesten Recherchen und Meinungsbeiträge.
Interessanterweise sind es gerade auch die jüngeren Abgeordneten, von denen aus Spahn und Co. Gegenwind ins Gesicht schlägt. Ein möglicher gesichtswahrender Ausweg für die Fraktionsführung könnte in einer Verschiebung der Abstimmung liegen. Dies böte der SPD ausreichend Zeit, einen neuen Kandidaten zu suchen. Friedrich Merz, der sich gerade in Rom aufhält, teilte vor Journalisten mit, er wolle am Donnerstagabend noch einmal mit Spahn sprechen und nach einer Lösung suchen.
Kardinal Woelki, Bischöfe und ZdK-Präsidentin warnen vor Wahl von Brosius-Gersdorf
Unterstützung erhalten die christlichen Unionspolitiker in unerwarteter Klarheit von der Präsidentin des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK), Irme Stetter-Karp. „Dass eine Kandidatin für das Amt der Bundesverfassungsrichterin öffentlich erklärt, es gebe ‘gute Gründe dafür, dass die Menschenwürdegarantie erst ab Geburt gilt’, beunruhigt mich sehr“, sagte sie am Donnerstag gegenüber KNA. „Ich würde sie aufgrund dieser Position nicht wählen können.“
Am späten Donnerstagnachmittag meldete sich Rainer Kardinal Woelki zu Wort. Und er äußert sich unmissverständlich in Richtung Unionsabgeordnete, auf die es schließlich vor allem ankommt:
„Bislang war das Bundesverfassungsgericht mit seiner Rechtsprechung der Garant für den Schutz der Menschenwürde in allen Lebensphasen. Als Christ und Bischof, vor allem aber auch als Staatsbürger hoffe ich darauf, dass unser Verfassungsgericht auch in Zukunft die unantastbare und unverlierbare Würde eines jeden Menschen vom Augenblick der Empfängnis an ausnahmslos weiterhin schützen und verteidigen wird.
Insofern appelliere ich angesichts der bevorstehenden Wahl neuer Richterinnen und Richter am Bundesverfassungsgericht an alle Abgeordneten des Deutschen Bundestages, ihrer Verantwortung gerecht zu werden und mit ihrer Wahl ein unmissverständliches Bekenntnis zur unverlierbaren und unter allen Umständen zu schützenden Würde jedes Menschen abzulegen.“
Zuvor hatten sich die Bischöfe von Regensburg und Passau, Rudolf Voderholzer und Stefan Oster, gegen Brosius-Gersdorf positioniert:
„Unser Grundgesetz ist maximal inklusiv. Jedem Menschen wird unabhängig von seiner Lebenssituation Menschenwürde und das Recht auf Leben zugesprochen. Ausschlüsse davon kann und darf es unter keinen Umständen geben. Dies unbedingt zu garantieren, ist die Pflicht des Staates.
Wer die Ansicht vertritt, dass der Embryo oder der Fötus im Mutterleib noch keine Würde und nur ein geringeres Lebensrecht habe als der Mensch nach der Geburt, vollzieht einen radikalen Angriff auf die Fundamente unserer Verfassung. Jede Relativierung von Art. 1 GG muss ein Ausschlusskriterium für die Wahl zum Richter oder zur Richterin des Bundesverfassungsgerichts sein.“
Der Rottenburg-Stuttgarter Weihbischof Thomas Maria Renz rief in einem Brief an den baden-württembergischen CDU-Politiker Manuel Hagel dazu auf, dass „der gesunde Menschenverstand der meisten Abgeordneten Ihrer christlichen Partei“ bei der Abstimmung am Freitag Oberhand behalten werde. Scharf verurteilte er in dem Schreiben, das der Tagespost vorliegt, die Aussage von Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) am Mittwoch im Bundestag, er halte Brosius-Gersdorf für wählbar, auch wenn sie Ungeborenen weniger Menschenwürde zuspreche.
Die Deutsche Bischofskonferenz (DBK) hat auf Corrigenda-Nachfrage auf eine schmallippige Äußerung des Katholischen Büros in Berlin verwiesen. Auf weitere Nachfrage, konkret: ob die DBK einen Brandbrief an die Unionsabgeordneten schicken werde, steht seit 48 Stunden eine Antwort aus.
› Treten Sie dem Corrigenda-Telegram- oder WhatsApp-Kanal bei und verpassen Sie keinen Artikel mehr!
Kommentare
Wenn sogar Frau Stetter-Karp ihre Ablehnung vollkommen zu Recht so deutlich formuliert, dann brennt die Hütte wirklich lichterloh.
Ich hoffe, CDU/CSU haben ihr Wertefundament noch nicht vollkommen aufgegeben. Es ist eine entsetzliche Farce.
Vielen Dank für diesen guten und hoffnungsvollen Artikel!