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Lebensschutz ist wichtig, Demokratie lebt

Brosius-Gersdorf: Vier Lehren aus der Richter-Pleite

Bundeskanzler Friedrich Merz landet mit einem Flugzeug aus Rom am Donnerstagabend in Berlin. Er fährt in die Sächsische Landesvertretung. Auf der 4. Ukraine Recovery Conference in Italiens Hauptstadt hatte der CDU-Chef tagsüber gegen die wachsende Skepsis bei der Ukraine-Unterstützung angekämpft. Währenddessen brannte in der Unionsfraktion die Hütte. Darüber wollen Merz, Fraktionschef Jens Spahn und der Rest der Unionsfraktionsführung im Bundestag sowie die CDU/CSU-Ministerpräsidenten sprechen.

Grund für die Krisensitzung: Eine relevante Anzahl von Abgeordneten der Christdemokraten und Christsozialen melden Kritik an an dem Plan ihrer Führung, am heutigen Freitag kurz nach Mittag die von der SPD vorgeschlagene Juristin Frauke Brosius-Gersdorf ins Bundesverfassungsgericht nach Karlsruhe zu wählen. Die Potsdamer Juraprofessorin sei mit ihrem Einsatz für die Legalisierung von Abtreibung nicht vereinbar mit den christlichen Werten, auf die sich die Union immer noch beruft.

Übereinstimmenden Berichten zufolge endet die Runde in der Sächsischen Landesvertretung damit, dass man dennoch an dem Plan festhalten wolle, die Richterwahl durchzuziehen. Währenddessen wächst die Zahl der Protestbriefe, die die Unionspolitiker erhalten. Die E-Mails sind größtenteils höflich, und vor allem jene zahlreichen aus dem Wahlkreis der jeweiligen Abgeordneten werden sehr ernst genommen, wie Unions-Abgeordnete und Mitarbeiter Corrigenda gegenüber bestätigen. Und es wächst die Zahl jener Abgeordneten, die intern ankündigen, gegen die Linie der Fraktionsführung zu stimmen.

Und dann beginnen die entscheidenden Minuten der Wende

Freitagmorgen, um halb acht, trifft sich der Parlamentskreis Mittelstand der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Dem wirtschaftsfreundlichen Zusammenschluss gehören rund 80 Prozent der Fraktion an. Die Fraktionsführung folgt hier noch ihrer bisherigen Linie. Hier gibt Spahn noch die Order aus: Wir machen weiter, wir ziehen das durch. Und dann beginnen die entscheidenden Minuten, der Zeitpunkt der Kehrtwende. 

Denn wenige Minuten nach acht Uhr und vor der eigentlich für acht angesetzten Fraktionssitzung informiert Merz seinen Vizekanzler und SPD-Chef Lars Klingbeil, dass die Wahl von Brosius-Gersdorf abgesetzt werden solle. Stattdessen sollen lediglich der vom Bundesverfassungsgericht empfohlene und von der Union vorgeschlagene Günter Spinner und die von der SPD vorgeschlagene Münchner Juraprofessorin Ann-Katrin Kaufhold gewählt werden.

Dies sagt Jens Spahn auch in der Fraktionssitzung, wie ein Teilnehmer gegenüber Corrigenda bestätigt. Als Begründung für den plötzlichen Richtungswechsel nennt er angebliche Plagiatsvorwürfe gegen Brosius-Gersdorf. Der österreichische Kommunikationswissenschaftler Stefan Weber hatte am Donnerstag im Laufe des Tages immer mehr „Textparallelen“ zwischen der Dissertation Brosius-Gersdorfs und der Habilitationsschrift ihres Mannes Hubertus Gersdorf öffentlich gemacht. Was Spahn aber offenbar nicht weiß: Weber hat nirgendwo gesagt, dass Brosius-Gersdorf von ihrem Mann abgeschrieben habe. Tatsächlich ist die Habilitation nach der Dissertation erschienen.

Unionsfraktionschef Jens Spahn am 11. Juli im Deutschen Bundestag: Bedröppelt wie ein ertappter Junge

Doch das spielt in diesem Moment keine Rolle. In der Unionsfraktion herrscht Erleichterung. Endlich lenkt die Fraktionsspitze ein. Dass sie dies mit dem Plagiatsverdacht begründet und nicht mit dem Lebensschutz, wird als gesichtswahrender Ausweg gewertet.

Noch während die Unionsfraktionssitzung läuft, sickern diese Informationen an die Öffentlichkeit durch. Um 10:10 Uhr soll laut Tagesordnung die erste Wahl, die von Richter Spinner, beginnen. Doch dazu kommt es nicht. Um 10:20 Uhr wird die 19. Bundestagssitzung dieser Legislaturperiode unterbrochen. Um 10:30 Uhr treffen sich die SPD-Abgeordneten zu einer Sondersitzung. Ergebnis: Die SPD will alle drei Richterwahlen absetzen.

Jens Spahn klatscht, als Wiese das Handeln der Union aufspießt

Nur Minuten später tritt die Grünen-Fraktionsdoppelspitze vor die Presse. Britta Haßelmann, die am Montag im Richterwahlausschuss saß, und Katharina Dröge machen ihrem Ärger auf Spahn Luft, sprechen von „Desaster“, „Dilettantismus“ und „absolutem Versagen“. Haßelmann spricht auf Nachfrage explizit die „30 bis 50 Personen aus der CDU/CSU-Fraktion“ an, die Spahn „ein Problem mit seiner Fraktion“ beschert hätten. „Wie hat Spahn eigentlich die Wahlen vorbereitet?“ In der Sache ist das Ergebnis des Auftritts das gleiche wie bei den Sozialdemokraten: Absetzung des Punktes für heute, Verschiebung auf später.

Wo ist eigentlich Jens Spahn? Der Antiheld des Tages, der seine Fraktion nicht im Griff hat? Ach ja, da kommt er rein und schlüpft noch schnell verspätet auf seinen Platz im Plenum, öffnet den Knopf am Sakko, als um Viertel vor zwölf die Bundestagsdebatte zur Verschiebung der Wahl der Bundesverfassungsrichter schon begonnen hat. Als erster spricht der Erste Parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Fraktion, Dirk Wiese, zur Geschäftsordnung.

Als dieser sich rhetorisch wundert, dass man jetzt „auch bei uns“ Debatten erlebe, wie es sie um oberste Gerichte in den USA oder in Polen zurzeit der PiS-Regierung gegeben habe – warum klatscht Spahn ausgerechnet nach diesem Eingangssatz Wieses mit, der doch sein, Spahns, verheerendes Handeln in der Causa aufspießt? Vielleicht, weil er als Zuspätkommer den Faden nicht mitbekommen hat? Vielleicht, weil die zurückliegende Nacht nur eine Mütze Schlaf bot, wenn überhaupt? Wir werden es nie erfahren. Aber Spahn sieht an diesem Tag im Plenum bedröppelt aus, wie man in Deutschlands Norden sagt – angefressen, lädiert, wie ein ertappter Junge, der weiß, dass alle anderen wissen, was er angestellt hat.

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Wiese steigt gleich groß ein und verwendet eine beliebte linke Rhetorikmasche: Gegen Brosius-Gersdorf, eine „hochangesehene Staatsrechtslehrerin“, macht er eine „Hetzkampagne“ aus, eine „Hetzjagd“ aus „rechten Kreisen“, von „sogenannten Lebensschützern, von rechten Nachrichtenportalen“, die in „Morddrohungen im Netz“ gegen sie gegipfelt habe – für die er im Plenum keine Belege bringt.

Aber natürlich ist Wiese vom roten Koalitionspartner der Christdemokraten verärgert, dass sich die Union nicht an die zuvor getroffenen Absprachen hält – erst nach der Zweidrittelmehrheit im Richterwahlausschuss vom Montag ist die Wahl der Bundesverfassungsrichter auf die Tagesordnung gesetzt worden. Die sozialdemokratischen Abgeordneten hätten in den vergangenen Wochen bei schwierigen Fragen schließlich auch „gestanden, und ich erwarte zukünftig, dass bei solchen schwierigen Entscheidungen auch andere stehen! Vielen Dank.“

Friedrich Merz sieht auch unglücklich aus. Unlocker, mit der linken Hand sich an der Armlehne des Kanzlersessels festhaltend, den Ellbogen nach hinten ausgestreckt, schaut er verdrießlich drein.

Ach Grüne, wie seid ihr schlecht gelaunt

Britta Haßelmann ist im Plenum auf Hundertachtzig. Sie ist upset, wie der Engländer so prägnant sagt. Überhaupt scheinen die Grünen heute nicht gut gelaunt zu sein. Die Regierung ist es nicht, die Opposition ist es nicht – nur die AfD, die in Gestalt ihres Ersten Parlamentarischen Geschäftsführers Bernd Baumann die Union als die „Ursache aller Instabilität“ hinstellt.

Felix Banaszak, Abgeordneter und Bundesvorsitzender seiner Partei, versteigt sich, während die Wortmeldungen zur Geschäftsordnung bereits laufen, zu dem Post: „CDU und CSU haben sich heute aus der demokratischen Mitte unseres Landes verabschiedet.“

Wie auf der Grünen-Pressekonferenz in der Sitzungspause am Vormittag angekündigt, votiert die Grünen-Fraktionschefin für eine Absetzung und Verschiebung der Tagesordnungspunkte zur Wahl der Verfassungsrichter. Kaum tritt sie ans Rednerpult des Bundestags, geht es los: „Ein solches Desaster hat es in der Geschichte der Wahlen zum Bundesverfassungsgericht in diesem Hohen Haus noch nicht gegeben!“ 

Die rechte Hand, ihr rechter Zeigefinger kommen überhaupt nicht mehr zur Ruhe, gehen unaufhörlich auf und ab, ja, die Finger zittern: „Und die Verantwortung dafür tragen in allererster Linie Sie, Jens Spahn, und auch Sie, Herr Merz“, und sie wendet sich kurz nach rechts in Richtung Regierungsbank. „Das will ich ganz eindeutig sagen: Sie haben Ihren Amtseid geschworen darauf, Schaden vom Volk abzuwenden und Gerechtigkeit.“ Dass einer Grünen selbst unbeabsichtigt, als Lapsus nur, der Begriff „Deutsches Volk“ über die Lippen kommt – dafür war Haßelmann dann doch nicht aufgebracht genug.

Auch sonst bleibt sie beim Sprech: Heute hätten Karlsruhe und „alle in Rede stehenden Kandidierenden“ erheblichen Schaden erlitten. Haßelmann gibt sich so in Rage, weil es vor „rund fünf Wochen“ den gemeinsamen Vorschlag von Spahn und dem SPD-Amtskollegen Matthias Miersch gegenüber der Grünen-Fraktion gegeben habe, von dem die Union sich jetzt „herauszustehlen“ versuche. Und jetzt zieht Haßelmann gleich zwei linksgezinkte Jokerkarten – „rechts“ und „Frauen“: „Unverantwortlich“ sei, was „hier getrieben“ werde – „wie auf rechten Newsportalen in Ihrer Fraktion offenbar Einfluss genommen“ werde, um mittels Plagiatsvorwürfen die „Karriere einer Frau so zu gefährden“. „Alle Frauen der Republik“ einbeziehend, keift sie: „Das kann man sich als Frau nicht bieten lassen!“

„Dann kommen Sie, Herr Spahn, und packen Ihre Schaufel aus“

In die gleiche Kerbe haut Linken-Star Heidi Reichinnek – und fährt rhetorisch schwere Geschütze auf, die allesamt nichts mit der Geschäftsordnung zu tun haben: „Immer wenn man denkt, die Union kann nicht noch tiefer sinken, dann kommen Sie, Herr Spahn, und packen Ihre Schaufel aus!“ Es wäre „gar kein Problem“ gewesen, den „gemeinsamen Vorschlag“ heute zu wählen. Die Union attackiere und diskreditiere jedoch seit Tagen Frauke Brosius-Gersdorf „in trauter Einigkeit mit Rechtspopulisten und Rechtsextremisten“ auf „schäbigste Art und Weise“.

Die Regierungspartei habe „rechte Narrative“ übernommen – und würde eine Frau „niedermachen“, die sich für die „Selbstbestimmung von Schwangeren“ einsetze. Da hat Frau Reichinnek das von der Potsdamer Rechtsprofessorin in juristische Sprache gekleidete politische Anliegen offenbar gut verstanden.

Was die Union tue, sei eine „hasszerfressene Aktion“, mit der sie die demokratischen Organisationen „den Rechtsextremen zum Fraß“ vorwürfe. „Am Horizont zeichnet sich immer deutlicher die schwarz-blaue Koalition ab!“

Wer der große Verlierer ist

Wie es nun weitergeht, ist bisher unklar. Dem Vernehmen nach will die SPD an Brosius-Gersdorf festhalten. Dies könnte allerdings auch nur ein Manöver sein, um Jens Spahn maximal unter Druck zu setzen. Er war es, der laut SPD vor fünf Wochen fest zugesagt hatte, dass die Personalie kein Problem sei. Ob er schlicht so weit entkoppelt ist von den Werten der Christdemokratie oder ob mehr dahintersteckt, etwa eine Vereinbarung mit der SPD, in der Maskenaffäre nicht weiter nachzubohren, das ist, Stand jetzt, unklar.

Als großer Verlierer stehen die Spitzen der Unionsfraktion und Friedrich Merz sowie deren Anhänger unter den Abgeordneten dar. Weil ihnen der Schutz des ungeborenen Lebens weniger wichtig war als der Koalitionsfrieden mit der SPD; weil sie mit dem vorgeschobenen Grund des Plagiatsvorwurfs ihre Kehrtwende begründeten; weil sie die Mechanismen des neuen, social-media-getriebenen Kommunikationszeitalters nicht verstanden haben.

Es wird im Internet lange nicht vergessen werden, mit welcher Überzeugung Merz am Mittwoch in die Falle von Beatrix von Storch getappt war, indem er im Bundestag mit einem so überzeugten wie lapidaren „Ja“ sagte, er könne es mit seinem Gewissen vereinbaren, Brosius-Gersdorf zu wählen.

Die vier Lektionen für Unionspolitiker, ihre Wähler und Lebensschützer

Die gescheiterte Richterwahl der Brosius-Gersdorf hält daher vier Lektionen parat:

  1. Die Verfechter der „Kultur des Todes“ lassen nicht locker. Dass die SPD mit Unterstützung von Grünen und Linken eben jene Juristin ausgewählt hat, die auch schon in der Ampel-Kommission für „reproduktive Selbstbestimmung“ in führender Position gesessen hatte, ist kein Zufall. Die Abtreibungsbefürworter kommen aber nur so weit, wie man sie lässt. Und hier kommt die Union ins Spiel.
     
  2. Deren Abgeordnete, ob in Führungspositionen oder nicht, tun gut daran, zu den Werten ihrer Partei zu stehen. Im CDU-Grundsatzprogramm heißt es: „Wir sind für Lebensschutz. Der Schutz des Lebens in allen Lebenslagen hat für uns Christdemokraten eine überragende Bedeutung. Das ungeborene Leben bedarf unseres besonderen Schutzes.“ Ein Abgeordneter, der seit Tagen in der Fraktion engagiert für den Lebensschutz eintritt, sagte gegenüber Corrigenda zum Ende des Sitzungstages: „Die große Mehrheit der Unionsfraktion hat heute gezeigt, dass sie fest zum C im Parteinamen steht. Christliche Werte haben weiterhin eine politische Heimat in Deutschlands größter Partei.“ Doch die Kernwählerschaft schläft nicht. Schließlich gibt es auch eine Alternative.
     
  3. Protest wirkt, Wähler werden ernstgenommen, die Demokratie lebt! Die Zehntausenden E-Mails, die in den vergangenen Tagen die 208 Unionsabgeordneten erreicht haben, waren sehr oft höflich formulierte, an das christliche Gewissen appellierende Protestbriefe von Bürgern aus dem jeweiligen Wahlkreis der Abgeordneten. Die Herrschaft geht vom Volke aus, diesmal im wörtlichen Sinne. Die Demokratie ist daher auch nicht beschädigt, wie links-grüne bis linksradikale Politaktivisten jetzt poltern. Die Unionswähler haben ihre Politiker nämlich nicht deswegen gewählt, progressive aktivistische Juristen ins oberste und wichtigste Gericht der Bundesrepublik zu hieven.
     
  4. Lebensschutz ist kein Nischenthema. Wie selten zuvor haben sich Unions- und AfD-Politiker sowie deren Vorfelder und Anhänger mit dem Umgang mit dem ungeborenen Leben beschäftigt. Laut den Corrigenda vorliegenden Antwortschreiben von Unionsabgeordneten waren es gerade oft auch junge Politiker, die entschieden gegen eine weitere Aufweichung des Schutzes ungeborener Kinder waren. Selbst weniger mit der christlichen Lehre vertraute Bürger waren von den Argumenten der Lebensschützer überzeugt, mindestens aber haben sie sie zum Nachdenken gebracht. Die ehrenamtliche und professionelle Lebensschutzbewegung war schlagkräftig wie nie.

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