Herbst der Reformen

Mein Frau Judith und ich stehen vor einem Herbst der Reformen. Ich muss mich dringend um einen Digitalisierungsschub kümmern, weil mein Handy bereits ins siebte Jahr gekommen ist. Mein Gesundheitssystem könnte eine Generalüberholung gebrauchen. Judith will im Geschäft grundsätzlich wieder auf Wachstum umschalten, und gemeinsam wollen wir im Bildungssystem die alten Werte erneuern, weswegen das Töchterchen jetzt nur noch 15 Minuten „Robin Hood“ schauen darf, bevor sie das Zimmer aufräumt.
Bei der Energiepolitik gehen wir einen innovativen Weg: Ich sammle Holzpaletten, die sich massenweise hinterm benachbarten Baumarkt stapeln, und verfeuere sie in unserem Großstadtkamin. Die Abteilung Bau priorisieren wir um und legen ein für alle Mal den alten italienischen Palazzo trocken.
„Du bist meine Kapitänin, und ich bin dein Schiff“
Natürlich ahne ich, dass wir es bei unserem Herbst der Reformen mit einer Herkules-Aufgabe zu tun haben. Es geht um mehr als nur um eine Kurskorrektur unseres Familienkreuzers, eigentlich brauchen wir ein ganz neues Schiff. Es soll nicht mehr schwerfällig durch die Fluten pflügen, sondern leichtfüßig über die Wellen tanzen.
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„Es reicht nicht, den Schornstein der Titanic neu zu tünchen“, erkläre ich Judith. „Wir bauen einen neuen Rumpf.“ „Du bist meine Kapitänin, und ich bin dein Schiff“, füge ich noch hinzu, und will so zärtlich zum Ausdruck bringen, wie sehr wir einander brauchen, und dass ich die Koalition natürlich nicht in Frage stelle.
So ein Reformherbst fordert den ganzen Mann
Sie schaut mich an, ihre grünen Augen werden zu Sehschlitzen. „Es wäre ein bisschen besser, du beginnst mit dem Herbst der Reformen unterm Bett und legst das Fusselmeer darunter trocken“, sagt sie. Sie zählt dann weitere Reformschritte auf: Die Hündin bürsten, den vertrockneten Salbei im Balkonkübel abschneiden, und der Rotwein, der im Herbst an Bedeutung gewinnt, ist auch alle.
Und wenn ich damit durch bin, möchte sie bitteschön nur mit mir allein für mindestens zwei Tage das Grundsatzprogramm noch einmal durcharbeiten, gern im Liegen und in einem Appartement mit Mittelmeerblick.
Ja, denke ich, so ein Reformherbst fordert den ganzen Mann. Ich gehe in den Hof und zerhacke eine weitere Palette. Mein neues Energiekonzept jedenfalls lasse ich mir nicht nehmen.
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