Ein Befreien von Ketten
Leonhard von Limoges lebte vor rund 1.500 Jahren und ging als „Kettenheiliger“ in die Geschichtsbücher ein. Seine Mission war es, durch Fürsprache beim König Gefangenen die Freiheit zu verschaffen.
Nun dient er als Namensgeber eines neuen, illuster besetzten Vereins. Die Aushängeschilder des Leonhard-Kreises sind der ehemalige Schweizer Bundesrat Ueli Maurer, der Autor Thilo Sarrazin und Hans-Georg Maaßen, der frühere Chef des deutschen Verfassungsschutzes. Das Trio ist der Ansicht, die Meinungsfreiheit sei in unseren Breitengraden bedroht. Ihr Verein will für das Problem sensibilisieren und ihm entgegensteuern.
Die prominente Besetzung machte es den hiesigen Medien so gut wie unmöglich, die Vereinsgründung zu ignorieren. Als Alternative dazu beschlossen sie, sich über diese lustig zu machen. Im Tages-Anzeiger, der sich selbst als links-liberal versteht, ist die Rede von einem „Grüppchen älterer, längst aus Amt und Würden geschiedenen Herren“ und einer „spleenigen Aktion“.
Es ist vielsagend, wie sich solche Beschreibungen je nach Anlass verändern. Würden sich die besagten Herren für ein der Zeitung genehmes Ziel engagieren, wären ihr Alter und ihre einstigen Funktionen vermutlich positiv als breite Lebenserfahrung mit großem Leistungsausweis umschrieben worden. Nun sind es eben ergraute Spinner aus der Vergangenheit.
Denkverbote und Sprachpolizei
Der Kommentar mit dieser – übrigens ziemlich altersdiskriminierenden – Einstufung folgt danach dem üblichen Schema. Es wird uns erklärt, dass die Meinungsfreiheit in der Schweizer Verfassung garantiert wird, dass es wohlüberlegte und demokratisch abgesicherte Ausnahmen gibt und dass man alles andere straffrei sagen darf. Die unausgesprochene Frage des Journalisten lautet: Wo also liegt das Problem, lieber Leonhard-Kreis?
Das kann man nur fragen, wenn man selbst nicht davon betroffen ist, weil man sich sorgfältig innerhalb des Meinungskorridors bewegt. Der wird nämlich in der Tat immer enger, und das ohne Hilfe des Strafgesetzbuchs. Wenn die Vertreter des Leonhard-Kreises von Denkverboten oder der Sprachpolizei sprechen, sind das weder „Floskeln“ noch „vernebelnde Begrifflichkeiten“, wie der Kommentator schreibt – es sind real existierende Phänomene.
Für die Beweisführung muss man nicht weit in der Zeit zurückgehen. Der einst gefeierte Komiker Marco Rima musste nicht ins Gefängnis, als er die Coronapolitik in der Schweiz kritisierte. Er hatte aber sozusagen Hausarrest, weil er von Veranstaltern und Bühnenbesitzern ausgesperrt wurde.
Der Arzt Thomas Binder wurde – aufgrund desselben „Tatbestands“ – von einem Polizeikommando gewaltsam aus seiner Praxis geschleift und vorübergehend in eine psychiatrische Klinik gebracht, bevor man feststellte, dass ihm nichts zur Last gelegt werden konnte. Der gewünschte Effekt auf die Ärzte im Land war aber erreicht: Mache brav mit, vergiss den hippokratischen Eid, berate die Patienten nach politischen Vorgaben, und dir wird nichts geschehen.
Nicht verboten, aber verhindert
Der Historiker Daniele Ganser muss sich regelmäßig vor Gericht die Einhaltung von Mietverträgen erkämpfen, weil Saalbetreiber diese plötzlich kündigen, wenn sie merken, dass er auf der Bühne unbequeme Fragen stellt. Der Liechtensteiner Verein „TankstellaBeiz“ verliert eine Auftrittsmöglichkeit nach der anderen, weil er Referenten einlädt, die sich außerhalb des von Politik und Medien gewünschten Meinungsrahmens aufhalten.
In keinem dieser Fälle müsste Leonhard beim König um die Befreiung von den Fesseln bitten. Aber in allen führte die freie Rede zu unangenehmen Begleiterscheinungen. Zu behaupten, dass es keine Tabumeinungen und -themen gibt, ist absurd. Auch in der Schweiz, in der man inzwischen vor Gericht landen kann, weil man öffentlich daran festhält, dass es nur zwei biologische Geschlechter gibt – wie jüngst ein Fall zeigte.
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Der Tages-Anzeiger behauptet aber, Denkverbote gäbe es nicht. Die abgedroschene Argumentationskette dafür gipfelt in dem Vorwurf, dem Leonhard-Kreis reiche es „offenbar nicht, dass eine Meinung nicht ‘verboten’“ ist. Darüber hinaus verbitte man sich auch Missbilligung und Kritik an dieser Meinung.
Leute wie Ueli Maurer, Thilo Sarrazin und Hans-Georg Maaßen sollen also Mühe mit Kritik an ihren Positionen haben? Sie wurden zeitlebens ständig mit dieser konfrontiert und sind bekannt dafür, gern Debatten zu führen. Nur will die andere Seite das gar nicht. Statt zu diskutieren, wird niedergeschrien. Sarrazin beispielsweise liefert in seinen Büchern Zahlen zur Migration, keiner kann sie infrage stellen, stattdessen wird er dann eben einfach als Rassist abgestempelt. Genau dieser Mechanismus ist es, den der neue Verein zu Recht kritisiert: Kampfbegriffe ersetzen Inhalte.
Freie Rede für alle
Es gibt sie, die Denkverbote. Es gibt Meinungen, die zwar nicht juristisch verfolgt, aber mit Diskreditierung bestraft werden. Niemand wandert hinter Gitter, wenn er den menschengemachten Klimawandel anzweifelt. Jedenfalls noch nicht. Handelt es sich aber um eine öffentliche Person, dann muss sie um ihre berufliche Existenz zittern. Was nicht viel besser ist als der Schuldspruch durch einen Richter.
Immerhin endet der Kommentar im Tages-Anzeiger humoristisch, wenn auch unfreiwillig. Aus Sicht des Leonhard-Kreises, so der Autor, könnte schon sein Text „ein Angriff auf die Meinungsfreiheit sein“. Man kann den Mann beruhigen: Die Leute, die sich für das Recht auf freie Rede engagieren, meinen ausdrücklich auch das Recht aller Andersdenkenden. Im Unterschied zu vielen anderen.
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