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Kolumne „Der Schweizer Blick“

Nicht alle können alles

Kevin Rauch ist 40 Jahre alt, wohnt in Zürich, arbeitet als Koch und hat einen klaren Plan: Er will in die Lokalpolitik. Bei den Gemeinderatswahlen kandidiert er für die Sozialdemokratische Partei (SP), und das mit guten Aussichten: Die Platzierung weit oben auf der Wahlliste lässt eine Wahl erfahrungsgemäß für eher möglich erscheinen.

So weit, so unspektakulär. Rauch ist allerdings kein Kandidat wie jeder andere. Seit Geburt leidet er an einer kognitiven Beeinträchtigung, die seine Aufnahmefähigkeit erschwert. Was über eine einfache Sprache hinausgeht, überfordert ihn. Wenn lange, verschachtelte Sätze oder komplexe Wörter im Einsatz sind, kann er dem Gesagten oder Geschriebenen nicht oder nur schwer folgen.

Die SP verkauft seine Kandidatur unter dem Stichwort der Inklusion. Menschen wie Kevin Rauch müsse die Teilnahme an der Politik ermöglicht werden, diese wiederum solle die Gesellschaft in allen Facetten abbilden. Öffentliche Kritik an dem Vorgehen der Partei wird nicht laut. Wer will sich schon dem Vorwurf aussetzen, einen Menschen für eine völlig unverschuldete Beeinträchtigung ausschließen und ihm ein Recht verwehren zu wollen?

Es droht Fremdbestimmung

Dabei gibt es durchaus berechtigte Bedenken. Schon heute ist klar, dass er ein politisches Amt nicht allein stemmen könnte. Er selbst sagt, er wäre auf eine Assistenz angewiesen. Seine Parteikollegen sprechen von „Unterstützung“, die man ihm bieten wolle. Das sei gar nicht so außerordentlich, schließlich wisse niemand über jedes Thema Bescheid.

Letzteres ist richtig, nur mit dem kleinen Unterschied, dass sich die meisten bei Unkenntnis mit etwas Fleiß selbständig in ein neues Thema einarbeiten können. In diesem Fall aber wäre der Lokalpolitiker in spe auf Gedeih und Verderben auf die Informationen angewiesen, die ihm Parteikollegen in einfacher Sprache vermitteln. Oder anders ausgedrückt: Er würde eng geführt und wäre letztlich fremdbestimmt. Wenn er dem komplexen Inhalt eines politischen Geschäfts nicht folgen kann, muss er einfach glauben, was man ihm sagt – und die Parole übernehmen, die man ihm auf diese Weise empfiehlt.

Seine Möglichkeiten kennen

Es gibt keine gesetzliche Hürde, die dem Zürcher eine Kandidatur verbieten würde. Ein Ausschlusskriterium für eine solche ist nur eine dauernde Urteilsunfähigkeit mit umfassender Beistandschaft, die in seinem Fall offenbar nicht vorliegt. Damit bleibt die Frage, ob seine Ambitionen sinnvoll sind – und ob Inklusion, so ehrenwert sie ist, nicht auch ihre Grenzen hat.

Dass Menschen mit einer Beeinträchtigung, sei sie körperlich oder geistig, in so vielen Bereichen wie möglich am gesellschaftlichen Leben teilnehmen können sollen und nicht wie in dunklen Zeiten versteckt werden dürfen, ist keine Frage. Aber muss man wirklich davon ausgehen, dass alle alles können und für alles geeignet sind? Es gibt natürliche Grenzen. Ein Blinder wird sich kaum das Recht auf einen Platz in einer Fußballmannschaft erstreiten können. Wer lispelt, wird sich den Traum, Synchronsprecher eines Hollywoodstars zu werden, vermutlich nicht erfüllen. Und mich ganz persönlich dürfte kaum je der Ruf als Model für Unterwäsche ereilen.

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Natürlich sind solche persönlichen Wünsche nicht dasselbe wie staatsbürgerliche Rechte, zu denen eine Kandidatur für ein politisches Amt gehört. Aber es gibt eine wichtige Parallele: Jeder muss sich fragen, wofür er geschaffen ist – und wofür weniger. Manchmal schätzt man das eigene Potenzial auch falsch ein. Dann ist es umso wichtiger, wenn man vom eigenen Umfeld darauf hingewiesen wird. Nicht als Bevormundung, sondern als Schutz.

Realitätsfern statt inklusiv

Wer bereits im Alltag oder im Umgang mit Behörden Verständnisprobleme hat, wird zwischen den Papierbergen eines Parlamentsbetriebs kaum glücklich. Politisch aktiv kann man auch in anderer Form sein, beispielsweise in einer Interessengemeinschaft oder einem Quartierverein, einem Verein, der sich für Interessen der Bürger eines Viertels einsetzt. Dort wird man nicht wie im Fall des Zürcher Gemeinderats Woche für Woche mit den unterschiedlichsten Themen überhäuft, die in kurzer Zeit abgearbeitet sein wollen. Die Abhängigkeit von Parteikollegen mit dem Gefühl, von diesen möglicherweise aufgrund eigener Interessen bewusst geführt zu werden, kann zudem nicht besonders angenehm sein.

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Niemand ist gerne Spielverderber, und jeder mit ein wenig Empathie gönnt es anderen, die persönlichen Ziele zu erreichen. Aber die Vorstellung, jeder sei für jede Aufgabe gemacht oder zumindest ausreichend befähigt, ist weniger inklusiv als vielmehr naiv und realitätsfern. Diese Vorstellung passt allerdings zum Zeitgeist: Heute vermitteln uns unzählige Stimmen auf allen Kanälen pausenlos, dass jeder alles schaffen kann.

Dem Kandidaten Kevin Rauch sei an dieser Stelle nichtsdestotrotz viel Erfolg gewünscht. Sollte es so weit kommen, ist es umso schöner, wenn er diese Zeilen hier Lügen straft, indem er Befriedigung im Amt findet. Denn trotz aller technischer Bedenken: Die Perspektive von Menschen mit einer Beeinträchtigung in einem Parlament wäre ohne Frage eine gute Sache.

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