Kein „Kirchhofsfrieden“ – Adenauers Weihnachts-Logik
Ein kleiner Christbaum in einem Hotelzimmer am Laacher See im Jahr 1933: Hell klingt das Weihnachtsglöckchen – wenige Geschenke, dafür das Weihnachtsevangelium und ein lange entbehrtes Zusammensein der großen Familie um die Krippe: mit Gebeten, Liedern, Gedichten. Übervoll ist die Kirche, „so ergreifend schön“ der Gottesdienst – und draußen Schnee, Sterne, „eine große wunderbare Stille“ über Berg und See. Wer diese Szene auf sich wirken lässt, wird sie nicht leicht vergessen.
Vielleicht sei es das schönste seiner Weihnachtsfeste gewesen, bekannte Konrad Adenauer seinen Landsleuten in seiner Weihnachtsansprache als Bundeskanzler 1951. In Maria Laach war Adenauer kein Kanzler, kein Politiker im Rampenlicht, sondern ein Gejagter. Nach schmachvoller Vertreibung aus seinem Amt und vom Tode bedroht, fand der 57-jährige Kölner Oberbürgermeister Zuflucht bei seinem Schulfreund, dem Abt des Benediktinerklosters Maria Laach. Rasch und schmerzlich lernte auch die Mönchsgemeinschaft: „Wir werden von Verbrechern regiert.“
Ein Jahr lang lebte Adenauer im Schutz der Mönche in der Eifel. Die feierliche Liturgie des heiligen Messopfers, das Chorgebet, der gregorianische Choral prägten ihn und wurden zur „alten Quelle neuer Kraft“.
Später sprach er davon, wie sehr die „richtig verstandene Pflege des liturgischen Gedankens“ die „seelische Haltung“ formt: Es geht um die Ausrichtung auf das letzte Ziel, ohne die „alles andere nicht richtig“ werde – auch im Politischen nicht. „Als er das Sterben spürte“, berichtete sein Sohn Paul, „bat er mich, ihm die lateinischen Messgesänge vorzusingen.“
Für Adenauer war Weihnachten kein sentimentales Idyll: In äußerer Bedrängnis wurde ihm dieses Fest zur Schule innerer Freiheit und Standhaftigkeit. Die Christmette in Maria Laach begann um 22 Uhr und dauerte bis tief in die Nacht: „Die alten Metten wurden gesungen und unsere schönen deutschen Weihnachtslieder.“ Auch aus dem fernen Industriegebiet waren die Menschen gekommen: „Die Orgel brauste auf, und unter dem Gesang der heiligen Texte nach der uralten Weise des gregorianischen Chorals vollzog sich am Altar das Geheimnis der Menschwerdung Gottes“, erinnerte sich Adenauers Frau Gussie später.
In einem sakralen Raum, der größer ist als persönliche Angst und missbrauchte Macht, bewahrte Gussie Adenauer ein Wort ihres Mannes, das wie politische Theologie im Taschenformat klingt: „Mit Gott ist der Verfolgte stärker als ohne Gott selbst der mächtigste Verfolger.“
1933: „Wir sind Verfemte“
Am Nachmittag dieses 24. Dezembers 1933 stand Gussie Adenauer mit den sieben Kindern auf dem Kölner Hauptbahnhof und erwartete den Zug nach Andernach. Der Bahnsteig war schwarz von Menschen. Sie sah viele Bekannte, doch die meisten blickten weg, ohne zu grüßen. „Wir sind Verfemte“, notierte sie später, „und voller Angst blickte ich auf die Kinder. Sie sollten nichts davon spüren, wie wir gemieden wurden.“ Um sie türmte sich das Gepäck: Koffer, große Pakete und Päckchen. „Wir hatten alles mitgenommen: Krippenfiguren, Christbaumschmuck, Kerzen und Geschenke für die Bescherung. Der holzgeschnitzte Kopf des Christkindes schaute aus dem braunen Packpapier heraus.“
Adenauers Weihnachts-Logik – innere Freiheit in äußerer Bedrängnis, Standhaftigkeit in der Ohnmacht, Licht in der Nacht ohne Garantie auf raschen Tagesanbruch – blieb nicht privat. Sie wurde politisch, ohne sich parteipolitisch zu verengen. Dies zeigte eine andere Weihnachtsansprache des Bundeskanzlers, die von 1952, in der er fragte: „Liebt der den Frieden, der passiv alles hinnimmt?“
Gegen jede Unterminierung wandte er sich, gegen jede Lähmung durch Furcht, gegen den Verlust der Freiheit, gegen die Vernichtung der Familie und die Zerstörung des religiösen Lebens. Einen solchen „Kirchhofsfrieden“ hätten die himmlischen Heerscharen nicht gemeint, als sie in der Heiligen Nacht den Hirten auf dem Felde die Geburt des Heilands verkündigten.
„Liebt das Volk den Frieden, das sich durch ein anderes unterwerfen lässt? Ist Frieden nichts anderes als der Gegensatz von Krieg? Wäre dem so, dann würde Sklaverei und Kirchhofsruhe auch Frieden sein. Aber dagegen bäumt sich das Beste in unserem Innern auf. Unser inneres Gefühl sagt uns: Friede ohne Freiheit ist kein Friede! Einen solchen Kirchhofsfrieden, einen solchen Frieden der Sklaverei können die himmlischen Heerscharen nicht gemeint haben, als sie in der Heiligen Nacht den Hirten auf dem Felde die Geburt des Heilandes verkündeten. Frieden und Freiheit, Freiheit des Einzelnen von Furcht und Zwang, Freiheit der Völker und der ganzen Menschheit von Ausbeutung, von Sklaverei, von Gewalt und Tod –, Frieden und Freiheit, das sind die Grundlagen jeder menschenwürdigen Existenz.“
Die Christnacht bei den Mönchen führt den Gedanken vom Laacher See – dem Ort der inneren Orientierung – zum Aachener Dom, der deutschen Weihnachtskirche schlechthin. Er ist in Architektur übersetzte Inkarnationstheologie.
Die karolingische Marienkirche verdichtet Weihnachtssymbolik zu einer Herzkammer des christlichen Europas: Reliquien, die auf Windeln Jesu und das Kleid Mariens in der Christnacht hinweisen, lassen die Menschwerdung Christi sinnfällig werden – wie nirgendwo sonst in Deutschland. Und es klingt dort auch weihnachtlich, denn der Aachener Dom kann sich des ältesten deutschen Weihnachtsliedes rühmen: „Syt Willekommen Heirre Kirst“. Am Dreikönigsfest 805 wurde er von Papst Leo III. geweiht – in Anwesenheit Karls des Großen und zahlreicher Bischöfe. Der karolingische Neuanfang trägt selbst ein weihnachtliches Datum: Karls römische Kaiserkrönung am Weihnachtstag 800.
Wer im Oktogon steht, spürt außerdem, wie sehr die deutsche Weihnachtskirche auch ein politischer Resonanzraum ist: Der Karlsthron auf der Empore wirkt bis heute wie ein stummes Programm – unbequem, gefügt aus Marmorplatten des Pilatuspalastes, die der Patriarch von Jerusalem Karl dem Großen schenkte. Auf ihnen bekannte der Herr: „Ja, ich bin ein König.“ Über ihm die Majestas Domini, Christus als Weltenherrscher: eine Erinnerung daran, dass im christlichen Europa irdische Ordnung nie reine Selbstermächtigung sein wollte, sondern Verantwortung am Maßstab des Christkönigs.
Unter dem „Erzstuhl des Reiches“, Krönungsort von mehr als 30 deutschen Königen, wurden das Reichsevangeliar und die Stephansburse aufbewahrt. Sie enthielt Erde, getränkt mit dem Blut des Erzmärtyrers Stephanus – ein Symbol opferbereiter Liebe, zugleich eine Mahnung, sich zum Evangelium bis ins Martyrium zu bekennen. Stephanus, der Stadtpatron Roms, wurde so auch zum Patron der deutschen Könige und Kaiser des Heiligen Römischen Reiches. Noch heute bezeugt der Stephanstag am 26. Dezember, der „zweite Weihnachtsfeiertag“, die innige Verbindung zwischen dem Weihnachtsgeheimnis und dem Opfer, um dessentwillen Gott Mensch wurde.
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In diesem Geiste wurde Aachen nicht nur christdemokratisches Gründungssymbol eines geeinten Nachkriegseuropas, sondern zugleich seine Bühne. 1952 – im Jahr des Inkrafttretens der Montanunion – empfing Adenauer hier den italienischen Christdemokraten Alcide De Gasperi als ersten ausländischen Regierungschef in der jungen Bundesrepublik. Das Programm – medial wirksam inszeniert – mündete nach dem Hochamt im Dom in die Verleihung des Karlspreises in der Aachener Kaiserpfalz für De Gasperis Verdienste um Europa. So verstand eine breite Öffentlichkeit die gemeinsamen Wurzeln christdemokratischer Europapolitik.
Der Dreiklang von Maria Laach
Zuvor aber führte Adenauer seinen italienischen Gast nach Maria Laach, an den Ort seiner Zuflucht vor nationalsozialistischer Verfolgung; De Gasperi war vor den italienischen Faschisten in den Vatikan geflohen. Wie sehr dieses Benediktinerkloster eine geistige Wirklichkeit verdichtet, zeigt ein Blick auf drei Männer, die zu „Vätern Europas“ wurden: Es steht für das christdemokratische Denken, das sie verband. Denn Adenauer studierte dort die päpstlichen Sozialenzykliken – Impulse, die früh in die Programmatik der bundesdeutschen Christdemokratie einflossen.
Robert Schuman, der dritte Gründungsvater, wurde ebenfalls durch Einkehrtage in Maria Laach geprägt. Er hatte 1904 sein Jurastudium an der nahen Universität Bonn begonnen und war Mitglied der katholischen Studentenverbindung Unitas-Salia Bonn.
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In Maria Laach hören wir einen Dreiklang: Adenauer, der hier Neuorientierung fand; Schuman, der aus benediktinischer Spiritualität Tiefe für sein europapolitisches Denken gewann; und De Gasperi, dem Papst Pius XI. Schutz bot. Der Verfasser der Enzyklika „Quadragesimo anno“ griff 40 Jahre nach „Rerum novarum“ die soziale Frage erneut auf, forderte eine am Gemeinwohl orientierte Wirtschaftsordnung, verurteilte sowohl Liberalismus als auch Sozialismus und formulierte Leitlinien der katholischen Soziallehre.
Ein Europa, aus Gewissensbildung, Gebet und Verantwortung neu gedacht
In dieser geistlichen Atmosphäre am Laacher See berührten sich unterschiedliche Lebenswege: Ihr gemeinsames Ziel war ein Europa, das aus christlicher Gewissensbildung, Gebet und Verantwortung neu gedacht wird.
Robert Schumans Seligsprechungsverfahren ist weit fortgeschritten: Papst Franziskus hat 2021 seine „heroischen Tugenden“ anerkannt. Schuman trägt damit den Titel Venerabilis Servus Dei – Ehrwürdiger Diener Gottes. Alcide De Gasperi ist kirchenrechtlich noch ein Servus Dei. Die diözesane Phase seines Verfahrens wurde im Februar 2025 abgeschlossen; die Akten liegen beim zuständigen Dikasterium in Rom. Zwar gibt es gelegentliche Medienberichte über die Idee einer Seligsprechung Konrad Adenauers. Ein kirchenrechtlicher Prozess ist für ihn derzeit jedoch weder eröffnet noch wird er vorbereitet.
So unterschiedlich die kirchlichen Wege der europäischen Gründungsväter waren, so deutlich bündelt sich ihre Vision an bestimmten Orten: das Kloster Maria Laach als Schutzraum geistlicher Erneuerung, das Aachener Ensemble aus Dom und Pfalz als Zeichen öffentlicher Wirksamkeit.
Europa braucht solche Orte, an denen sich seine Ge-schichte erzählen lässt. Dass sie mehr sind als Kulisse, sagte Adenauer selbst.
Als ihm 1954 der Karlspreis verliehen wurde, erinnerte Adenauer an den weihnachtlichen Neubeginn Karls des Großen in Aachen und beschrieb die Stadt als „Herz des christlichen Abendlandes“ – als aufgeschlagenes „Geschichtsbuch der europäischen Frühzeit, der Zeit, in der Europa noch eine einheitliche Ordnung besaß und der europäische Gedanke eine geistige, eine politisch konstruktive Macht bedeutete“. Das Reich Karls des Großen wurde für Adenauer zum Leitbild einer Ordnung auf einem gemeinsamen Fundament: dem Christentum als geistige Grammatik und moralischer Bezugspunkt, als „vorpolitische“ Voraussetzung einer freiheitlichen Ordnung, die diese nicht aus sich heraus garantieren kann. 1958 erhielt Robert Schuman den Karlspreis.
Als die damalige Bundeskanzlerin 2019 den „Vertrag von Aachen“ unterzeichnete, der den Élysée-Vertrag von 1963 vertiefen sollte, hob sie zwar hervor, es sei kein Zufall, dass dies in Aachen geschehe – „der Hauptresidenz Karls des Großen oder Charlemagnes – desjenigen, den wir den „Vater Europas“ nennen“. Einen geistigen Bogen mit erkennbaren Folgen spannte sie nicht. Bemerkenswert ist im Rückblick, wie klar dieser Vertrag bereits „die Entwicklung einer gemeinsamen militärischen Kultur“ ins Auge fasst – doch ohne geistiges Fundament wird selbst eine solche Integration nicht gelingen.
In der Kriegsweihnacht 1944 sprach Papst Pius XII. von einer „hoffnungsvollen Morgenröte“
Was dieses Fundament sein kann, zeigt die päpstliche Radiobotschaft in der Kriegsweihnacht 1944. Wer heute christdemokratische Rhetorik nur als Folklore für das Parteivolk begreift oder als Wahlkampftaktik nutzt, der übersieht, dass Europas Nachkriegsordnung ihre Kraft aus tiefen Wurzeln zog: aus dem, was der Mensch ist – und worauf seine Würde gründet. Die geistige Tiefenschicht der Christdemokratie wird sichtbar in jener Ansprache Pius’ XII. am Heiligen Abend 1944. Sie gab der Christdemokratie ihren Gründungsimpuls: In aller Not der Schlachtfelder und zerbombten Städte, der Konzentrations- und Gefangenenlager entstand ein neues Denken über Staat, Demokratie und Menschenwürde.
In dieser Kriegsweihnacht sprach der Papst von einer „hoffnungsvollen Morgenröte“ und gab Leitlinien für den Wiederaufbau Europas nach seinem Untergang im Zweiten Weltkrieg. „Wahre und echte Demokratie“ im päpstlichen Sinne versteht den Menschen nicht als „passives Element“, sondern als „Träger, Grundlage und Ziel“ des sozialen Lebens.
Für diese Perspektive ist Weihnachten der Maßstab: Wenn Gott Mensch wird, kann Politik den Menschen nicht zur Funktion degradieren. Denn das Weihnachtsfest verkündet „feierlich die unverletzliche Würde des Menschen mit einer Kraft und Autorität, gegen die es keine Berufung gibt, und die unendlich hinausragt über jene Autorität, zu der alle nur möglichen Erklärungen der Menschenrechte gelangen könnten“. Es ist das Fest „des wunderbaren Tausches“, zitiert Pius XII. einen liturgischen Text, „bei dem der Schöpfer des Menschengeschlechts durch Annahme eines lebendigen Leibes sich gewürdigt hat, aus einer Jungfrau geboren zu werden, und uns mit seinem Kommen seine Gottheit geschenkt hat“.
„Wahre und echte Demokratie“ ist anspruchsvoll. Die päpstliche Ansprache zeichnet das Ideal christdemokratischen Handelns „mit tiefer christlicher Gesinnung und Überzeugung, mit gerechtem und sicherem Urteil, mit praktischem und ausgeglichenem Wesen, sich selbst treu in allen Lagen“. Aufbau und äußere Organisation eines demokratisch verfassten Staates würden von der Eigentümlichkeit jedes Volkes abhängen und verschiedene Formen zulassen.
Zwei Fragen, die Pius XII. bewegten, sind zeitlos: Welche Eigenschaften müssen die Menschen auszeichnen, die in einer Demokratie leben? Und welche Eigenschaften müssen die Menschen auszeichnen, die in der Demokratie die öffentliche Gewalt innehaben?
Die Antwort ist so unbequem wie der Aachener „Erzstuhl“ und doch befreiend zugleich: Politischer, moralischer, sozialer und wirtschaftlicher Neubeginn braucht Menschen, die sich nicht vom jeweiligen Zeitgeist treiben lassen, sondern Maß nehmen an Größerem – an der Würde des Menschen, an Freiheit, Verantwortung und der Wahrheit des menschgewordenen Gottes. An dieser Stelle setzt die christdemokratische Gründungsidee an: als Gegenentwurf zu totalitären Versuchungen und liberalistischen Ideologien.
Den zweiten Teil des zweiteiligen Beitrags von Dorothea und Wolfgang Koch lesen Sie morgen unter dem Titel „Ohne Gott geht es nicht“.
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Kommentare
Das ist ja alles sehr nett, alleine man muss konstatieren, dass von der Idee die man Adenauer, De Gasperi und Schumann nicht viel übriggeblieben ist.
Das muss den dreien eigentlich schon klar geworden sein, als es um die Flagge ging und es sich als unmöglich herausstellte, das christliche Symbol par excellence, das Kreuz, dort unterzubringen.
Was hat man gemacht? Man hat das christliche Symbol im Sternenkranz der Muttergottes sozusagen "reingemogelt". Nun liegt aber auf dem Mogeln kein Segen, wie man sieht.