Warum es falsch ist, aus politischen Gründen den Kontakt zur Familie abzubrechen

Lass den Funken nicht zur Flamme werden, denn wenn der Funken erst mal zur Flamme geworden ist und reichlich Nahrung findet, dann erlischt sie erst, wenn sie alles zerstört hat.
„Lass den Funken nicht zur Flamme werden“ heißt auch eine Erzählung Leo Tolstois. Zwei benachbarte Bauern streiten sich. Anfangs nur gemäßigt, der Anlass war eine Kleinigkeit, es ging um ein Ei, das ein Huhn versehentlich auf des Nachbars Grundstück gelegt hatte.
Schließlich schaukeln sich die beiden Parteien bis zum Nachbarschaftskrieg hoch. Beide Familien leiden darunter, trotzdem hören sie nicht auf. Nur ein kranker Greis, der Vater des einen Bauern, warnt beständig, er möge nicht weiter Öl ins Feuer gießen. „Nicht ihm schadest du, sondern dir“, redet der gläubige Alte seinem Sohn ins Gewissen, als dieser seinen Nachbarn auspeitschen lassen will. Er mahnt zur Vergebung.
„Ich kann da auch keine falsche Toleranz zeigen. Ich bin absolut gegen die AfD“
Was für die Nachbarschaft gilt, gilt erst recht für die Familie. Vor allem, wenn es um so eine Kleinigkeit wie die Politik geht. Am Wochenende sind zwei Beiträge in den Magazinen Spiegel und Stern erschienen, in denen die Protagonisten, zwei junge Frauen, jeweils mit ihren Familien ganz oder teilweise gebrochen haben.
Die eine ist die Hamburgerin Nina Chuba, eine 26 Jahre alte Sängerin, die bürgerlich Nina Katrin Kaiser heißt, und deren Eltern aus Sachsen-Anhalt stammen. „Ich habe mit einem Teil meiner ostdeutschen Familie gebrochen, weil sie politische Haltungen vertreten, für die ich nicht stehe“, sagte sie dem Spiegel. „Ich kann da auch keine falsche Toleranz oder Verständnis zeigen. Ich bin absolut gegen die AfD.“
Die andere heißt Leonie Plaar, 1992 geboren, die gerade den Bestseller „Meine Familie, die AfD und ich“ geschrieben hat. Im Stern-Interview räumte sie nicht ohne einen gewissen trotzigen Stolz ein, den Kontakt zu ihren Eltern abgebrochen zu haben. Auch hier sei der Grund deren Begeisterung für die AfD gewesen. Plaar ist lesbisch und setzt sich im Internet für „queere“ Menschen ein. Doch: „Meine Sexualität war nicht die Sollbruchstelle, an der meine Familie auseinanderbrach. Ich habe von meiner Familie nie explizit queerfeindliche Dinge zu hören bekommen.“
Der Grund für den radikalen Schritt, den Kontakt mit ihren Eltern abzubrechen und damit an die Öffentlichkeit zu gehen, liege in deren Unterstützung für die AfD, die eine Bedrohung für Menschen wie sie darstelle. Dass einer der beiden Parteichefs selbst in einer homosexuellen Beziehung lebt, spiele keine Rolle.
Auch Konservative haben politisch-familiäres Konfliktpotenzial
Nicht ohne Grund sind es zwei junge Frauen, die wegen der AfD-Affinität ihrer Angehörigen die familiären Brücken niederreißen. Junge, urban geprägte Frauen wählen am wenigsten häufig AfD. Diese Gruppe ist nicht nur liberaler eingestellt, ihren Mitgliedern ist es auch besonders wichtig, was ihr Umfeld von ihnen denkt. Sie wollen nicht ausscheren.
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Den Kontakt zu den Eltern komplett abzubrechen – Plaar nennt ihren Vater nur „Erzeuger“, der Vater sei gestorben –, geht jedoch noch einen Schritt weiter. Politische Differenzen gibt es natürlich auch in umgekehrter Konstellation. Konservative oder Freiheitliche hatten während der akuten Phase der Flüchtlingskrise 2015/2016 und während der Corona-Pandemie ausreichend Konfliktpotenzial. Auch dürften die meisten jemanden in der Familie haben, der mit dem christlichen Glauben nichts am Hut hat oder ihn gar ganz ablehnt oder ihn gegen die grüne oder eine andere Ersatzreligion ausgetauscht hat.
Fünf Gründe gegen den Kontaktabbruch mit der Familie
Doch deswegen den Kontakt abbrechen? Nein. Aus mehreren Gründen: nein. Und die gelten auch für junge Frauen, die sich wegen der AfD von ihren Nächsten abwenden wollen.
- Den Kontakt zu den Eltern abzubrechen, schadet auch dir. Ob beim Großziehen der Kinder, bei Fragen in alltäglichen Lebenssituationen, in finanzieller Hinsicht, psychischen Tiefs oder Krankheit, die Familie ist die nächstliegende natürliche Gruppe, die dir helfen kann.
- Deine Eltern haben dich gezeugt und großgezogen. Dieses Wissen wirst du immer mit dir tragen. Du weißt nicht, wann deine Eltern sterben. Dann ist es jedenfalls zu spät für Reue und Vergebung – und du wirst dir dein Leben lang Vorwürfe machen.
- Politische Einstellungen können sich ändern. Kapselst du dich ab, hast du keinen Einfluss mehr. Im Gegenteil: Die Fronten werden verhärtet, die Situation verkrampft.
- Gewichtest du im Zusammenhang mit deiner Familie das Politische höher als die emotionale und verwandtschaftliche Bindung, setzt du dich nicht gegen die deiner Meinung nach falsche Politik ein, sondern du stellst dich gegen die Personen. Dein Kampf sollte aber gegen die schlechte Weltanschauung gehen, nicht gegen das Individuum.
- Der Mensch ist ein soziales Wesen. In fast allen großen Kulturen und Religionen ist die Wertschätzung der Eltern ein zentrales Element. Das vierte der zehn Gebote Gottes lautet: „Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren, auf dass du lange lebest in dem Lande, das dir der Herr, dein Gott, geben wird.“ Die Familie ist die Urzelle der Gesellschaft, zerbricht sie, zerfällt langfristig auch das Land.
In Tolstois Erzählung geht der Nachbarschaftsstreit so weit, dass eine schwangere Frau verletzt wird und der eine Bauer dem anderen den Hof ansteckt, wodurch nicht nur beide Anwesen, sondern auch das halbe Dorf niederbrennt. Der Greis rät seinem Sohn auf dem Sterbebett, er solle niemandem sagen, dass der verfeindete Bauer den Hof angezündet hat. Der Sohn tat, wie ihm geheißen, was das Gewissen des anderen Landwirts lebendig werden lässt. Sie bauten die Höfe wieder auf, sie gelangten zu Wohlstand und zu Frieden, innerem wie äußerem.
Den Funken nicht zur Flamme werden lassen ist nicht nur weise und gottgefällig, sondern auch ökonomisch und praktisch klug.
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