Die Brosius-Gersdorf-Erklärung beweist, warum der Protest legitim ist

Was sich in der Causa der gedungenen neuen Verfassungsrichter, deren Wahl dann kurzfristig abgesetzt wurde, über das vergangene Wochenende abgespielt hat – drängt sich da nicht unwillkürlich ein Vers aus „Max und Moritz“ auf: „Jeder denkt, die sind perdü – aber nein, noch leben sie!“
Wer etwa gemeint hätte, die SPD würde auf den christdemokratischen Koalitionspartner zugehen und auf eine gütliche Lösung hinarbeiten, oder geglaubt hätte, die beschädigte Potsdamer Bewerberin Frauke Brosius-Gersdorf würde durch Rücktritt von der Bewerbung auf eleganteste Weise Druck aus dem Kessel ablassen, der sieht sich ähnlich übertölpelt wie Meister Bäcker beim Anblick der quicklebendigen Frechdachse: „Ach herrje! Da laufen sie!“
Nach dem Willen der SPD soll sich die Potsdamer Staats- und Verfassungsrechtlerin den Abgeordneten der Unionsfraktion persönlich vorstellen. Die Brosius-Gersdorf-Ultras machen im Netz Bambule. Und auch Brosius-Gersdorf selbst ist in die Offensive gegangen.
› Lesen Sie auch: Brosius-Gersdorf-Ultras: Wie eine linke Schmutzkampagne entsteht
Zum ersten Mal, seit sie wegen ihrer liberalen Haltung zum Schwangerschaftsabbruch in breiteren Bevölkerungsschichten ins Gerede gekommen ist, meldet sie sich zu Wort. Am Dienstag ließ sie über eine Bonner Anwaltskanzlei ein Schreiben verbreiten. Die Stellungnahmen dort werden sicherlich auch Gegenstand ihres Auftritts am Dienstagabend bei „Markus Lanz“ sein. Doch ob sie sich damit einen Gefallen tut?
Da ist jemand beleidigt, der Widerspruch nicht gewohnt scheint
Ihr Schreiben kommt im Ton kratzbürstig herüber. Die 54-Jährige verwahrt sich gegen die Bezeichnung ihrer Person als „ultralinks“ oder „linksradikal“, wie in mehreren Medien geschehen. Diese Medien müssten sich nun Kritik gefallen lassen: diese hätten „unzutreffend und unvollständig“, „unsachlich und intransparent“ berichtet. Da ist jemand beleidigt, der Widerspruch nicht gewohnt scheint. Ihr Medienverständnis scheint ohnehin ein verkrampftes zu sein. Jedenfalls dann, wenn die Medien kritisch berichten, was ihre Hauptaufgabe ist. Dass sie sich in der Stellungnahme als unschuldiges Opfer sieht, offenbart ein bedenkliches Medienverständnis.
Ihre wissenschaftlichen Positionen möchte sie in der „demokratischen Mitte“ angesiedelt sehen. Da möchten freilich alle sein: In jener „Mitte“ ist es mittlerweile so voll wie in einer Arztpraxis am Montagmorgen. Grüne und Dunkelrote haben dort breitbeinig die Stühle eingenommen, keifen die Sprechstundenhilfe an: „Wir waren zuerst da!“
› Abonnieren Sie den Corrigenda-Newsletter und erhalten Sie einmal wöchentlich die relevantesten Recherchen und Meinungsbeiträge
Aufhorchen lässt Brosius-Gersdorfs Kritik an anonymen Äußerungen und dem Zitieren anonymer Quellen. „Welchen Grund gibt es, sich … anonym zu äußern?“ fragt sie rhetorisch und scheint nicht zu bemerken, wie sie sich entlarvt. In Zeiten, in denen Politiker für sich „zu Recht stärkeren Schutz“ vor verbalen Angriffen forderten und ein „digitales Vermummungsverbot“ diskutierten, würden „anonyme Äußerungen“ von staatlichen Funktionsträgern „befremden“.
Brosius-Gersdorf empfiehlt sich für eine bestimmte Position – wie ein Politiker
Wer hier eine Position erkennen will, die die weitere Einschränkung der Meinungsfreiheit – denken wir an Paragraf 188 StGB und den „Schwachkopf“-Skandal – für geboten hält, hätte den Wortlaut auf seiner Seite. Brosius-Gersdorf empfiehlt sich hier abermals für eine bestimmte Position – wie ein Politiker. Ob das ihrer Bewerbung für Karlsruhe zuträglich ist?
In Bezug auf ihre Positionen zur Abtreibungsthematik, die Teile der Unionsabgeordneten so aufgeschreckt hatte, versucht Brosius-Gersdorf zu beschwichtigen:
„Die Berichterstattung über meine Position zur Reform des Schwangerschaftsabbruchs entbehrte der Tatsachengrundlage. Der Hauptvorwurf in den Medien ist, dass ich dem ungeborenen Leben die Menschenwürdegarantie abspräche und für einen Schwangerschaftsabbruch bis zur Geburt sei. Das ist falsch. Die Aussage, ich wäre für eine Legalisierung und eine (hiervon zu unterscheidende) Straffreiheit des Schwangerschaftsabbruchs bis zur Geburt, ist unzutreffend und stellt eine Verunglimpfung dar.“
› Lesen Sie auch: Der Dreh- und Angelpunkt ist das Recht auf Leben
Die „Tatsachengrundlage“ können wir in zwei Punkte aufteilen: den Schwangerschaftsabbruch und die Menschenwürdegarantie.
Dass die Potsdamer Staatsrechtlerin persönlich nicht für einen Schwangerschaftsabbruch bis zur Geburt ist, wollen wir ihr gern glauben. Doch ihre bisherige Tätigkeit in Stellungnahmen hat den rechtlichen Schutz für das ungeborene Leben geschwächt. So lieferte sie ein Gutachten, dass das ärztliche Werbeverbot für Abtreibungen für verfassungswidrig erklärte. Die Ampel-Koalition strich daraufhin den Strafrechtsparagrafen, was einer Normalisierung des niemals Normalen Vorschub leistet.
Rechtmäßige Abtreibungen bis zur 12., straffrei auch nach der 22. Woche
In ihrer vorab eingereichten schriftlichen Stellungnahme (PDF) zur Anhörung im Rechtsausschuss des Bundestages am 10. Februar 2025 (Corrigenda berichtete) ist ihr Vorschlag zu lesen, „den Schwangerschaftsabbruch für die Schwangere während der gesamten Zeit der Schwangerschaft straffrei“ zu stellen. Neu daran wäre gewesen, dass die Straffreiheit der Schwangeren nach dem Ende der 22. Woche zum Regelfall wird statt wie nach gegenwärtig geltendem Recht die Ausnahme ist.
Diese Straffreiheit ist nicht zu verwechseln mit der Rechtswidrigkeit. Nach Brosius-Gersdorfs Vorschlägen einer nach ihrer Ansicht verfassungskonformen Regelung der Abtreibung „bleibt der Schwangerschaftsabbruch“ nach dem Ende der 12. Woche „wie bislang grundsätzlich rechtswidrig und strafbar“ (strafbar nur eben nicht für die Schwangere, sondern für medizinisches Personal).
Neu an Brosius-Gersdorfs Vorschlägen für den Rechtsausschuss war auch, und so ist das auch unmissverständlich öffentlich kommuniziert worden und so entsprach es den Plänen der Ampel-Koalition, den Schwangerschaftsabbruch auf Wunsch bis zum Ende der 12. Woche rechtmäßig zu stellen und nicht bloß straffrei wie gegenwärtig.
„In der Konsequenz“, so steht es in der Stellungnahme, „werden die Kosten für den Abbruch von den gesetzlichen Krankenkassen getragen“ – das heißt, die Versichertengemeinschaft und damit wir alle bezahlen regelhaft die Tötung noch ungeborener Menschen mit. Über die Krankenkasse – so, als ob ungewollte Schwangerschaft eine Krankheit wäre. Für bewusste Christen wie für jeden, der länger darüber nachdenkt, eine unerträgliche Belastung für das Gewissen und ein Hohn auf Sitte, Anstand und das Gefüge unserer Rechtsordnung.
Ein juristischer Taschenspielertrick
Den anderen Punkt, so, wie Brosius-Gersdorf die Menschenwürdegarantie anpackt, darf man getrost als juristischen Taschenspielertrick abtun. Es mag ja sein, dass der Schutz der Menschenwürdegarantie aus Artikel 1 Abs. 1 GG unter Verfassungsrechtlern „umstritten“ ist, dass auch Gründe dafür diskutiert werden, warum die Menschenwürdegarantie erst ab Geburt zu gelten habe.
Brosius-Gersdorf stützt sich bei der Definition der Menschenwürde auf die sogenannte Objektformel, die, wie sie betont, einen breiten Konsens unter ihren Berufskollegen genieße. Danach ist die Menschenwürdegarantie ohnehin nur dann verletzt, wenn der Einzelne zum Objekt staatlichen Handelns herabgewürdigt wird, etwa bei der (verfassungswidrigen) Folter.
„Mit der Beendigung einer Schwangerschaft durch die Frau ist aber nicht regelhaft ein Unwerturteil über den Embryo/Fetus verbunden“, schreibt Brosius-Gersdorf in der Stellungnahme vom Februar dieses Jahres für den Rechtsausschuss. „Die Schwangerschaft wird in der Regel nicht beendet, weil der Embryo/Fetus als lebensunwert erachtet wird, sondern weil für die Frau eine Mutterschaft zu dem Zeitpunkt nicht vorstellbar ist.“
Warum Unions-Abgeordnete und Lebensschützer auf die Barrikaden gehen
So aufgefasst, ist die Menschenwürde reine Begriffshuberei. Von seiner nicht verletzten Menschenwürde kann sich der unschuldig im Mutterleib getötete Embryo, platt gesagt, dann auch nichts mehr kaufen.
Das Bundesverfassungsgericht ist hier klar, und Brosius-Gersdorf weiß das, denn sie zitiert:
„Dem liegt die Annahme des Bundesverfassungsgerichts zugrunde, dass auch für den Embryo/Fetus das Grundrecht auf Leben (…) und die Menschenwürdegarantie (…) ohne Schutzabstufung gelten und diese Grundrechte gegenüber dem Persönlichkeitsrecht (…), dem Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (…) sowie der Menschenwürdegarantie (…) der Schwangeren grundsätzlich Vorrang genießen.“
Da sie in diesem Zusammenhang darauf insistiert, den Urteilen des Bundesverfassungsgerichts komme „gegenüber dem Gesetzgeber keine Bindungswirkung zu“, versteht man, warum Unions-Abgeordnete und Lebensschützer auf die Barrikaden gegangen sind.
Wenn Brosius-Gersdorf in ihrem Schreiben vom heutigen Dienstag darauf pocht, dem ungeborenen Leben stehe „ab Nidation das Grundrecht auf Leben zu, wofür ich stets eingetreten bin“, so kann man ob so viel Treuherzigkeit nur den Kopf schütteln: Wir konnten doch alle lesen.
Kommentare
Frau Brosius-Gersdorf:
… den Urteilen des Bundesverfassungsgerichts komme „gegenüber dem Gesetzgeber keine Bindungswirkung zu“ …
§ 31 (1) Bundesverfassungsgerichtsgesetz:
Die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts binden die Verfassungsorgane des Bundes und der Länder sowie alle Gerichte und Behörden.
Auf diesen Widerspruch hat in der Anhörung des Rechtsausschusses Prof. Thüsing aus Bonn hingewiesen.
Vielleicht können mir ja die Jura-Studentinnen aus dem 8. Semester weiterhelfen, die hier gelegentlich kommentieren. Mir sieht das nämlich bei aller gebotenen Höflichkeit nicht nach einer fachlichen Eignung für das Bundesverfassungsgericht aus.