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Zur Selbstdemontage Europas

Ein Lagebild in düsteren Zeiten

Wer sich in diesen Tagen den Zustand Europas und insbesondere der EU ansieht, muss schon ein habitueller Stoiker sein, um nicht in tiefe Depressionen zu verfallen. In den großen Konflikten der Zeit, die europäische Interessen elementar berühren, werden die Europäer immer mehr zu bloßen Zuschauern.

Ob es US-Präsident Donald Trump wirklich gelungen ist, den jüngsten Nahost-Krieg, der mit dem Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 begann, zu beenden, ist ungewiss. Gewiss ist aber, dass an dem Prozess, der jetzt immerhin zu einer Art Waffenstillstand geführt hat, Europa kaum beteiligt war. Allenfalls einzelne englische Politiker wie Tony Blair, der eigentlich schon im Ruhestand ist, mögen im Hintergrund eine gewisse Rolle gespielt haben, und Großbritannien mag auch eine kleine Nebenrolle als ewiger Juniorpartner der USA im weiteren Verlauf zugedacht sein.

Aber insgesamt waren Europa und besonders die EU in dem Konflikt immer nur Zuschauer. Und, falls es denn zu einem wirklichen Friedensprozess kommen sollte, werden sie es auch bleiben, wenn kein Wunder geschieht.

Politisches Chaos im reformunfähigen Frankreich

Noch sehr viel bedrückender ist aber der Umstand, dass die Europäer auch im Osten ihres eigenen Kontinents, im russischen Krieg gegen die Ukraine und bei den Versuchen, diesen beizulegen, kaum eine eigene Stimme von Gewicht haben. Die entscheidenden Verhandlungen laufen zwischen Washington und Moskau, allenfalls dem ukrainischen Präsidenten gesteht Donald Trump gelegentlich noch ein allerdings beschränktes Mitspracherecht zu.

Dass die nächste Gesprächsrunde zwischen Trump und dem russischen Machthaber Wladimir Putin in Budapest stattfinden sollte – sie ist jetzt wohl auf unbestimmte Zeit vertagt –, gewissermaßen am Hof desjenigen europäischen Politikers, der sich am meisten als Rebell gegen die EU profiliert hat, ist schon für sich genommen bezeichnend und eine Demütigung für Brüssel. Den Europäern wird allenfalls das Recht zugestanden, die Waffenlieferungen für die Ukraine und eines Tages vielleicht auch den Wiederaufbau des von Russland zerstörten Landes zu finanzieren, sonst müssen sie sich weitgehend mit ihrer eigenen Ohnmacht abfinden.

Diese Ohnmacht ist allerdings zu großen Teilen selbstverschuldet. Um das zu begreifen, reicht ein Blick auf das politische Chaos in Frankreich. In einem Land, das schon jetzt deutlich überschuldet ist, lehnt die Mehrheit der Abgeordneten – die in dieser Hinsicht freilich nur das zum Ausdruck bringen, was ihre Wähler leidenschaftlich verlangen – jede Reform des Sozialstaates und des Rentensystems ab. Mehr noch, die sehr vorsichtige Reform des Renteneintrittsalters, die Staatspräsident Emmanuel Macron vor einigen Jahren mit Hilfe einer Notverordnung auf den Weg gebracht hatte, wird ausgesetzt und bis auf Weiteres zurückgenommen. Nur so kann die neue französische Regierung offenbar einem Misstrauensvotum entgehen und einen Etatentwurf durchs Parlament bringen.

Irgendjemand wird schon für die Schulden aufkommen, im Zweifel die Deutschen

Frankreich wird damit bei der Neuverschuldung endgültig zum unangefochtenen Spitzenreiter in der EU, auch wenn die Gesamtverschuldung immer noch – aber wie lange noch? – unter der Griechenlands oder Italiens liegt. Die französische Schuldenwirtschaft hängt natürlich eng mit der Konstruktion der Währungsgemeinschaft des Euro zusammen. Hätte Frankreich noch eine eigene Währung, wäre der Druck der Finanzmärkte auf den Zinssatz für französische Anleihen und auf den Kurs des Franc vermutlich schon so groß, dass man nicht umhinkäme, doch zu sparen. Schlimmstenfalls würde der IWF Notmaßnahmen erzwingen.

So aber kann die sichere Aussicht auf grenzenlose Anleihenkäufe durch die Europäische Zentralbank (EZB) und auf die weitere Vergemeinschaftung von Schulden in der EU respektive der Eurozone leicht die Illusion entstehen lassen, ein steter Anstieg der nationalen Schulden sei letztlich komplett irrelevant. Irgendjemand wird schon für die Schulden aufkommen, im Zweifelsfall die Deutschen. Frankreich droht damit die ganze Währungsunion und die EU in eine überaus gefährliche Schieflage zu bringen; immerhin ist es noch vor Deutschland die eigentliche Führungsmacht der EU.

Publizist Muamer Bećirović: „Um zwischen Ost und West balancieren zu können, muss Deutschland militärisch stark sein“

Seit dem Brexit hat es im Prinzip sogar eine quasi hegemoniale Stellung inne, denn Deutschland fehlen für die Durchsetzung eigener Vorstellungen und Interessen in Brüssel meist die Verbündeten, wenn man denn in Berlin überhaupt einmal dazu in der Lage ist, die eigenen Ziele zu definieren und zu artikulieren. Mit anderen Worten, wenn Frankreich fiskalisch und politisch gelähmt ist, ist die ganze EU gelähmt, der dann Paris überdies immer mehr die Aufgabe zuweisen wird, dem französischen Staat finanzielle Belastungen abzunehmen.

Die Merkel-Ära hat Vertrauen verspielt, das nicht wiederzugewinnen ist

Aber Frankreich ist nicht das einzige Sorgenkind der EU. In Deutschland hat die Krise mittlerweile ein Ausmaß erreicht, dass man Grund zu der Annahme hat, dass das Land in wenigen Jahren schon ähnlich unregierbar sein wird wie das westliche Nachbarland. In Frankreich misstrauten viele Bürger den Politikern und den Parteien schon immer, auch wenn dieses Misstrauen in den vergangenen Jahren immer größere Ausmaße angenommen hat. Fast 90 Prozent der Franzosen glauben mittlerweile, dass Politiker sich primär nur von ihren persönlichen Interessen leiten lassen, und gut 80 Prozent sind der Überzeugung, dass das demokratische System in Frankreich nicht wirklich funktioniert und ihre eigenen Interessen und Wertvorstellungen als Bürger nicht ausreichend zur Geltung bringe. Den Parteien trauen nur noch an die zehn Prozent eine Problemlösungskompetenz zu. Kein Wunder, dass sie nicht bereit sind, persönliche Opfer für eine zukunftsfähige Reformpolitik zu bringen, und dass Protestparteien von links und rechts von dieser Stimmung profitieren.

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Ganz so schlimm mag es in Deutschland noch nicht sein, aber Umfragen zeigen, dass wir uns auch hier in eine ähnliche Richtung bewegen. Irgendwie ist es der politischen Klasse in der Merkel-Ära gelungen, so viel Vertrauen zu verspielen, dass schwer zu sehen ist, wie sich dieser Prozess in absehbarer Zeit revidieren ließe. Dies gilt umso mehr, weil die in den letzten 15 Jahren entstandenen Probleme, von den Folgen einer verfehlten Energiewende bis hin zu den Auswirkungen einen unkontrollierten Masseneinwanderung, im Alltag sich kaum noch verbergen, geschweige denn lösen lassen, zumal man ja viele dieser Probleme noch nicht einmal offen ansprechen darf, ohne als vermeintlicher Extremist denunziert zu werden.

Ein weiteres Hindernis für eine vernünftige Politik ist aber die EU, die den Nationalstaaten in den letzten 30 Jahren immer mehr Kompetenzen entzogen hat, aber selbst nur selten überzeugende Lösungen anzubieten weiß. Am Ende bleibt man in Brüssel, jedenfalls gilt das für die EU-Kommission und die Mehrheit der Abgeordneten des EU-Parlaments, überzeugt, dass „Mehr Europa“ die Lösung für praktisch alles ist.

Brüssel kann es nicht

Mit Erschrecken nimmt man wahr, dass die EU sich jetzt auch noch des Marktes für Häuser und Wohnungen annehmen will. Nachdem die EZB durch ihre Nullzinspolitik in den Jahren ab 2012 (die bis vor wenigen Jahren konsequent verfolgt wurde) die Hauspreise in schwindelerregende Höhen getrieben hat und die rigorose Klimapolitik der EU ein Übriges tut, um das Wohnen stark zu verteuern, entdeckt man nun plötzlich, dass das vielleicht auf Dauer doch ein kleines Problem sein könnte, jedenfalls für die Masse der Bevölkerung.

Die Idee, den nationalen Regierungen zu erlauben, Bauprojekte stärker zu subventionieren, mag vom Ansatz her vertretbar sein, aber damit wird das Problem der Überregulierung des Wohnungsbaus und des Wohnens durch energiepolitische Vorschriften – und viele davon haben ihren Ursprung in Brüssel – und andere Formen wuchernder Bürokratie nicht gelöst. Man kuriert wie so oft nur an den Symptomen herum und richtet dabei vermutlich noch mehr Schaden an als die nationalen Regierungen, die immerhin eine gewisse Vorstellung von den realen Problemen haben dürften.

Nordöstliche EU-Außengrenze: Wartesaal im Bahnhof von Narva, der estnischen Grenzstation zu Russland
Unter dem Horizont Amerika: Kreuz am Cabo da Roca, dem westlichsten Punkt des europäischen Festlands an der portugiesischen Atlantikküste

Das Problem liegt darin, dass die EU bei ihrem Versuch, zu einer „ever closer union“ zu werden, immer wieder bereit war, ein hohes Maß an Dysfunktionalität in Kauf zu nehmen. Hauptsache, es kam überhaupt zu einer gemeinsamen Einigung; wenn sie in der Praxis defizitär war, dann musste man das eben akzeptieren. Das galt für die völlig verfehlte Währungsunion genauso wie für die Dublin-Regelungen zum Umgang mit Migration und Flüchtlingen. Dysfunktionalität administrativer Prozesse und politischer Entscheidungen gibt es natürlich auch auf nationaler Ebene in erheblichem Umfang, aber in Brüssel ist das alles eben zu guten Teilen systemimmanent, ja geradezu bewusst gewollt, wie man oft meinen könnte.

Abgehängt von Rotchina, ignoriert von den USA

Die geringe Fähigkeit der Wähler, europäische Politiker, namentlich die Mitglieder der Kommission oder andere Entscheidungsträger (die oft gar nicht klar zu identifizieren sind), für offensichtliche Fehlentwicklungen zur Verantwortung zu ziehen, ist hier ein wichtiger Faktor – aber eben auch die tiefe Überzeugung der in Brüssel maßgeblichen politischen Eliten, dass die europäische Einigung ein so wunderbares Ziel ist, dass es einfach nur kleinlich wäre, erreichte Schein-Kompromisse daraufhin zu prüfen, ob sie in der Praxis auch wirklich tragfähig sind.

Lange konnte man sich eine solche Haltung trotz aller Probleme irgendwie leisten. Militärisch war Europa nach 1990 scheinbar nicht mehr ernsthaft bedroht, und trotz diverser wirtschaftlicher Krisen schien der Wohlstand der Kernländer der EU doch auf lange Zeit gesichert. Jetzt hat sich die Lage verändert: Die Verteidigungsausgaben müssen wieder massiv steigen, und angesichts einer rasch alternden Bevölkerung und der Zuwanderung von Millionen geringqualifizierter Immigranten steigen die Sozialausgaben ins Unermessliche. Bei technischen Innovationen und ihrer wirtschaftlichen Nutzbarmachung verliert man überdies immer mehr den Anschluss an China und Amerika, aber vielleicht demnächst auch an Indien.

Dazu kommen die wachsenden Spannungen zwischen der EU und den USA. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass sich die USA gerade in dem Moment von Europa abwenden und es zum Teil sogar als Gegner behandeln, den man demütigen müsse, in dem sich die politische Kultur in Europa mehr denn je amerikanisiert hat. Dass Diversität und kulturelle Vielfalt zu einem selbstevidenten Ziel erhoben wurden – und dies gerade auch von den Institutionen der EU gefördert wird – und man unter dem Einfluss einer dezidiert „woken“ Ideologie auf Schritt und Tritt gegen „Hassrede“ sowie die vermeintliche Diskriminierung von Minderheiten jeder Art glaubt vorgehen zu müssen, so dass die EU mittlerweile sogar eine eigene „LGBTIQ equality strategy“ hat, lässt sich kaum verstehen ohne das Vorbild der USA respektive den Einfluss der amerikanischen Kulturkämpfe auf Europa.

Der dortige Kampf gegen Rassismus und die „bunte“ Einwanderungsgesellschaft wurden bewusst zum Vorbild erklärt, obwohl die Geschichte der USA eine ganze andere ist als die der alten europäischen Nationen. Nur leider hatte man auf die falsche Karte gesetzt, denn zumindest für die nächsten Jahre befinden sich in den USA die ewigen Ankläger der kulturellen Tradition des Westens und der Dominanz des bösen, meist heterosexuellen „weißen Mannes“ in der Defensive. Man kann von Trump, dem maßlosen Narzissten, dessen Egomanie nur durch seine Unberechenbarkeit und Vulgarität übertroffen werden, halten, was man will, aber die Regeln des politischen Spiels hat er mit seinen brachialen Maßnahmen fürs Erste deutlich zu Ungunsten der „progressiven“ und oft eher destruktiven linken Bewegungen verändert.

Wir müssen wieder wir selbst werden

Die Europäer aber, die sich in der Vergangenheit politisch und kulturell an das Amerika der Gegner Trumps gebunden hatten, finden sich plötzlich in einem politischen Niemandsland wieder. Sie können sich nicht mehr auf die USA verlassen und stützen, sind aber auch viel zu schwach, um auf eigenen Beinen zu stehen, weil die meisten der politischen Projekte, die sie in den letzten 30 Jahren vor allem auf EU-Ebene verfolgt haben, nur Schönwetter-Konstruktionen waren, wie sich jetzt erweist. Jetzt drohen überdies dauerhafte wirtschaftliche Stagnation und Deindustrialisierung (in den Ländern, in denen es überhaupt noch eine starke Industrie gibt), und den meisten Staaten geht langsam, aber sicher einfach das Geld aus; sie versinken in Schulden. Frankreich ist da nur ein besonders eklatanter Fall.

In Tracht gekleidete Kinder posieren im Dorfmuseum Hermannstadt vor christlicher Volkskunst: Europäische Vielfalt in Einheit

Es ist mehr als unklar, ob es Europa noch einmal gelingen kann, das Blatt zu wenden und seinen Niedergang aufzuhalten. Eine essentielle Voraussetzung dafür wäre, sich auf die eigene Geschichte und die eigenen Traditionen zu besinnen. Die meisten europäischen Länder waren eben bis vor rund 40 oder 50 Jahren nie in ihrer Geschichte in dem Maße ethnisch heterogene Einwanderungsgesellschaften, wie die USA es zumindest seit dem 19. Jahrhundert durchgehend waren, und auch das vergiftete Erbe, das in den USA die Sklaverei und der Versuch, die befreiten Sklaven fast ein Jahrhundert lang von allen politischen Rechten und der vollen Gleichberechtigung auszuschließen, hinterließen, ist Europa fremd.

Das heißt nicht, dass nicht auch Europa seine eigene düstere Geschichte des Rassismus und der Diskriminierung von Randgruppen hat, aber die spezifischen Kulturkämpfe in den USA beruhen eben eigentlich auf Voraussetzungen, die in Europa so einfach nicht gegeben sind. Die Europäer, wenn sie überhaupt eine Chance haben wollen, zu überleben, müssen sich daher vor allem vom übermächtigen kulturellen Einfluss der USA frei machen. Das gilt dann nicht nur für die woke Linke mit ihrer Forderung nach umfassenden Denk- und Sprachverboten, sondern auch für konservative Protestbewegungen, die in der MAGA-Bewegung Trumps zum Teil ein Vorbild sehen. Das ist nicht weniger verhängnisvoll als die Übernahme der politisch unausgewogenen und zum Teil geradezu toxischen Kultur der amerikanischen Universitäten durch progressive Eliten in Europa.

Wir müssen wieder wir selbst werden, wenn das überhaupt noch möglich ist. Dann haben wir vielleicht auch die Chance, die jetzigen politischen Polarisierungen, die immer mehr Länder in Europa vollständig unregierbar zu machen drohen und damit für den tödlichen Reformstau mitverantwortlich sind, zu überwinden.

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