Bern, das Mekka der Staatsdiener
Sollte Günther Jauch jemals einen Kandidaten auf dem Weg zur Million nach der Hauptstadt der Schweiz fragen, hier kommt die Warnung: Wenn die Redaktion seriös gearbeitet hat, ist es eine Trickfrage. Denn es gibt keine Hauptstadt.
Seit Anbeginn der modernen Schweiz im Jahr 1848 fungiert Bern als sogenannte „Bundesstadt“. Die Regierung und das Parlament sitzen dort, die meisten Bereiche der Verwaltung ebenfalls. Eine Hauptstadt im eigentlichen Sinn wollten die Staatsgründer aber bewusst nicht ernennen. Sie befürchteten den Geist der Zentralisierung und eine Schwächung des Föderalismus mit seiner starken Stellung der Kantone.
Ob das feine Detail aus heutiger Sicht einen Unterschied macht, lässt sich schwer sagen. Sicher ist aber: Der Stadt Bern selbst hat die Entscheidung zu ihren Gunsten nicht gutgetan.
Das Ja zu einem Kommunistentraum
Als die Schweizer Ende November über die Initiative der Jungsozialisten für eine Erbschaftssteuer von 50 Prozent für „Superreiche“ abstimmten und das Anliegen massiv verwarfen, fand sich in einer einzigen größeren Stadt eine Mehrheit für die Idee: in Bern. Nicht einmal in den anderen rot-grün dominierten Zentren wie Zürich oder jenen in der Westschweiz wäre es mehr als 50 Prozent der Bürger ernsthaft eingefallen, diese kommunistische Vision zu unterstützen.
Das ist kein Zufall. Die Bundesstadt hat mit der Schweiz und ihrem Erfolgsmodell nicht mehr viel zu tun. Dieses lautet: So viel Staat wie nötig, aber so wenig wie möglich, ein freier Markt als Basis einer florierenden Wirtschaft, die Unternehmer als Rückgrat der Gesellschaft. Bei all dem schaudert es den typischen Berner. Er sieht es exakt umgekehrt.
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Wer mit dem Zug in Richtung Bern fährt, kann die Auswirkungen sehen. Die Strecke führt am Kulturzentrum Reitschule vorbei, das inzwischen mit Kultur so viel zu tun hat wie das „Dschungel-Camp“ auf RTL. Ende des 19. Jahrhunderts als Prunkstück aus Sichtbackstein für Stallungen und Kutschenstellplätze entstanden, ist daraus nach Besetzungsaktionen während der Jugendunruhen in den 1980er-Jahren ein Anarchisten-Paradies geworden, das faktisch als rechtsfreier Raum dient. Nicht einmal die Polizei wagt sich ohne umfangreiche Vorbereitung dorthin. Entsprechend sieht das Gelände in bester Lage auch aus. Sogar ein Messie würde sich über die Unordnung beklagen.
Im politischen Zentrum rund ums Bundeshaus geht es zwar gesitteter und aufgeräumter zu und her. Aber der Geist der Linken, Grünen und Woken herrscht auch hier. Nur anarchistisch ist man hier nicht.
Eine Stadt voller Staatsdiener
Mehr als 40 Prozent der Erwerbstätigen, die in der Stadt Bern wohnen, arbeiten bei der öffentlichen Verwaltung oder in verwandten Bereichen wie Erziehung, Gesundheit und Soziales. Fast der Hälfte der Stadtberner geht das Bewusstsein für ein funktionierendes Wirtschaftssystem schon deshalb ab, weil sie die Privatwirtschaft nur vom Hörensagen kennen. Und weil viele der restlichen 60 Prozent mit einem Diener des Staats verheiratet, verschwägert oder bestens befreundet sind, verbreitet sich diese Perspektive kreisartig.
Die Erbschaftssteuer-Initiative zeigt, wohin das führt: In der Bundesstadt lebt eine Mehrheit von Stimmbürgern, die kein Problem damit haben, das Geld mit vollen Händen auszugeben, weil man es sich ja jederzeit bei der arbeitenden Bevölkerung zurückholen kann. Das macht man auch innerhalb der eigenen Stadtmauern. In den nächsten zwei bis drei Jahren dürfte die Bruttoverschuldung auf über 1,8 Milliarden Franken steigen und bald auf 10.000 Franken pro Einwohner.
Mehr Staat statt Eigenverantwortung?
Zudem scheint der Versuch unserer Vorfahren, eine Zentralisierung zu verhindern, wohl doch fehlgeschlagen. Denn die laufend wachsende Bundesverwaltung – es sind bald 39.000 Stellen – ist der heimliche Herr im Haus. Das Parlament kann dem Wust von Papier, der aus Bundesämtern, Abteilungen und Dienststellen herausgepresst wird, gar nicht mehr Herr werden und lässt sich längst willenlos von den Verwaltungsspitzen führen. Diese treffen sich nach Feierabend mit ihren ebenfalls beim Staat angestellten Freunden und diskutieren, wie man private Unternehmer am Gängelband führen und gleichzeitig noch ordentlich ausnehmen kann.
Der Staat, der über allem steht, Eigenverantwortung und privates Engagement als lästige Phänomene im Rest der Schweiz: Diese Haltung sitzt vielen Bernern tief in den Knochen. Sie können sich das in größter Entspannung leisten. Der einstige Beamtenstatus wurde zwar zugunsten eines öffentlich-rechtlichen Anstellungsverhältnisses abgeschafft, was theoretisch bedeutet, dass diese Leute Arbeitnehmer wie alle anderen und damit kündbar sind. Aber wer nicht gerade mit dem Tafelsilber des Bundesrats in der dunklen Nacht verschwindet, ist in Sicherheit. Und nirgends kann man so einfach nichts tun und gleichzeitig überaus beschäftigt wirken wie bei der Bundesverwaltung.
Dass die Stadt Bern verhaltensauffällige Abstimmungsresultate liefert, damit kann das Land leben. Dass aber mitten in der Schweiz ein Mekka bedingungsloser Staatstreue entstanden ist, kombiniert mit einer heimlichen Sehnsucht nach einem Schuss Sozialismus, und dass das alles tief in die Bundesverwaltung reicht: Das muss zu denken geben.
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